hinter eiuem Vorhange am aller-
besten, so datz man von aller
Persönlichkeit abstrahierte und nur
die Stimme der Musen im allge»
meinen zu hören glaubte."
Wenn einer dem Goetheschen
Ideale nachstrebte, sähe das Bild
vielleicht folgendermaßen aus: ein
kleiner, intimer Saal, ein keines-
wegs zahlreiches Publikum. (Denn
die Mehrzahl ist an stärkere Effekte
gewöhnt.) Aus einer wohltuenden
Stille der Sammlung heraus be-
gänne der Vortragende zu erzäh-
len. Er erzählt wirklich. Besser:
nicht er, sondern der Dichter, oder
das, was noch hinter dem Dichter
steht und ihm die Worte eingibt.
Ium Beispiel: die Legende erzählt,
oder das Volk, oder ein blinder
Bettler, oder ein trüber, traurig
verträumter Herbstabend. Und das
Publikum ist nicht hier im Saale,
sitzt nicht zu Füßen eines tzerrn
mit Frack und weißer Halsbinde.
Wir Zuhörenden sehen von den
Felsen der Krim ins Meer hin-
ab, wandern durch irgendwelche
weltferne Gegenden, wir sehen die
Menschen und Schicksale vor uns
aufsteigen, vorübergleiten, unstet
und menschlich irren, untergehen
und siegen. Wir hören diese
Stimme schließlich gar nicht mehr,
wir werden unmerklich von ihr
geführt, durch all das fremde Er»
leben, das dieses schlichtc und ein»
dringliche Erzählen zu unserem
eigenen werden läßt. Und wir
merken zunächst gar nicht, daß diese
Stimme nun schweigt: spinnt sich
die Geschichte nicht weiter? Fol--
gen auf dieses Ende nicht wieder
neue Anfänge und Schicksale?
,Und viele Geschlechter reihen sich
dauernd an ihres Daseins unend-
liche Kette."
Das Thema ist alt: schon im
3. Iahrgang des Kunstwarts (III,
(5) hat Avenarius darüber gcspro-
chen. „Wir haben auch hier ein
Gebiet, das, wie zum Beispiel der
Kunsttanz, die schöne Gartenkunst,
der Zirkus mit seinen Darbietun-
gen, in unseren Zeitungen nicht
ernsthaft besprochen wird" — heißt
es dort. Nun, es hat sich man-
ches geändert: der Kunsttanz, die
Gartenkunst, auch die Vortrags»
kunst wird besprochen, die Kunst
thront nicht mehr in vornehmen
Höhen fernab über dem Leben, sie
sucht vielmehr auf allen Gebieten
die innigste, unmittelbarste Berüh-
rung mit ihm. Warum bleibt ge-
rade unser Thema so auffallend
neu? Der Virtuose wird bejubelt,
der wirkliche Erzähler (der frei-
lich damals noch ganz fehlte) ist
noch immer selten. And wenN ich
auch von Typen und Idealbildern
gesprochen habe, es lassen sich doch
für den ersten Typus Beispiele in
Menge bringen nnd viele von den
Zügen, die ihn kennzeichnen, selbst
an den bedeutendsten Erscheinungen
beobachten — während der zweite
Thpus im wesentlichen wohl nur
hie und da im privaten Krcise
zu finden ist. (Anter den Vortrags-
künstlern, die in der Sffentlichkeit
vortreten, ist vor allem Emil Milan
zu nennen.) And das Pnblikum?
Das ist noch immer vielfach dann
am meisten befriedigt, wenn der
höchst berühmte Rezitator es dahin
bringt, daß es von und in seinen
Vorlesungen ganz „weg" ist — weil
eben der Vortragende so sehr „da"
ist, daß seine Gegenwart erdrückt.
And es scheint noch immer an
manchen Stellen notwendig, „von
dem größeren Ernste, der in die
Kunst und in den Kunstgenuß des
deutschen Volkes einzuziehen scheint,
ein Stückchen anch für die Vor-
lesungen unsrer Dichtungswerke und
für die Beurteilung dieser Vor-
lesungen zu erbitten".
Hermann Allmann
M Kunstwart XXIV, (5
besten, so datz man von aller
Persönlichkeit abstrahierte und nur
die Stimme der Musen im allge»
meinen zu hören glaubte."
Wenn einer dem Goetheschen
Ideale nachstrebte, sähe das Bild
vielleicht folgendermaßen aus: ein
kleiner, intimer Saal, ein keines-
wegs zahlreiches Publikum. (Denn
die Mehrzahl ist an stärkere Effekte
gewöhnt.) Aus einer wohltuenden
Stille der Sammlung heraus be-
gänne der Vortragende zu erzäh-
len. Er erzählt wirklich. Besser:
nicht er, sondern der Dichter, oder
das, was noch hinter dem Dichter
steht und ihm die Worte eingibt.
Ium Beispiel: die Legende erzählt,
oder das Volk, oder ein blinder
Bettler, oder ein trüber, traurig
verträumter Herbstabend. Und das
Publikum ist nicht hier im Saale,
sitzt nicht zu Füßen eines tzerrn
mit Frack und weißer Halsbinde.
Wir Zuhörenden sehen von den
Felsen der Krim ins Meer hin-
ab, wandern durch irgendwelche
weltferne Gegenden, wir sehen die
Menschen und Schicksale vor uns
aufsteigen, vorübergleiten, unstet
und menschlich irren, untergehen
und siegen. Wir hören diese
Stimme schließlich gar nicht mehr,
wir werden unmerklich von ihr
geführt, durch all das fremde Er»
leben, das dieses schlichtc und ein»
dringliche Erzählen zu unserem
eigenen werden läßt. Und wir
merken zunächst gar nicht, daß diese
Stimme nun schweigt: spinnt sich
die Geschichte nicht weiter? Fol--
gen auf dieses Ende nicht wieder
neue Anfänge und Schicksale?
,Und viele Geschlechter reihen sich
dauernd an ihres Daseins unend-
liche Kette."
Das Thema ist alt: schon im
3. Iahrgang des Kunstwarts (III,
(5) hat Avenarius darüber gcspro-
chen. „Wir haben auch hier ein
Gebiet, das, wie zum Beispiel der
Kunsttanz, die schöne Gartenkunst,
der Zirkus mit seinen Darbietun-
gen, in unseren Zeitungen nicht
ernsthaft besprochen wird" — heißt
es dort. Nun, es hat sich man-
ches geändert: der Kunsttanz, die
Gartenkunst, auch die Vortrags»
kunst wird besprochen, die Kunst
thront nicht mehr in vornehmen
Höhen fernab über dem Leben, sie
sucht vielmehr auf allen Gebieten
die innigste, unmittelbarste Berüh-
rung mit ihm. Warum bleibt ge-
rade unser Thema so auffallend
neu? Der Virtuose wird bejubelt,
der wirkliche Erzähler (der frei-
lich damals noch ganz fehlte) ist
noch immer selten. And wenN ich
auch von Typen und Idealbildern
gesprochen habe, es lassen sich doch
für den ersten Typus Beispiele in
Menge bringen nnd viele von den
Zügen, die ihn kennzeichnen, selbst
an den bedeutendsten Erscheinungen
beobachten — während der zweite
Thpus im wesentlichen wohl nur
hie und da im privaten Krcise
zu finden ist. (Anter den Vortrags-
künstlern, die in der Sffentlichkeit
vortreten, ist vor allem Emil Milan
zu nennen.) And das Pnblikum?
Das ist noch immer vielfach dann
am meisten befriedigt, wenn der
höchst berühmte Rezitator es dahin
bringt, daß es von und in seinen
Vorlesungen ganz „weg" ist — weil
eben der Vortragende so sehr „da"
ist, daß seine Gegenwart erdrückt.
And es scheint noch immer an
manchen Stellen notwendig, „von
dem größeren Ernste, der in die
Kunst und in den Kunstgenuß des
deutschen Volkes einzuziehen scheint,
ein Stückchen anch für die Vor-
lesungen unsrer Dichtungswerke und
für die Beurteilung dieser Vor-
lesungen zu erbitten".
Hermann Allmann
M Kunstwart XXIV, (5