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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1912)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0155

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saurer, als abzuschreiben und nach-
zudrucken, selbst wo das ganz nütz-
lich ist. Wer sich mit den Dingen
selbst auseinandersetzt, findet ja bei
allem Erlebten, das ihm begegnet,
ganz sicher irgend etwas, das er
anders erlebt als der andere. Nein,
er erlebt in Wahrheit alles
anders, er hat daher fortwährend
das Bedürfnis zum Andersgestal-
ten, zum Neusormen!

Trotzdem brauchen die Blätter,
die nur verwerten, keineswegs
schädlich zu wirken. Nicht einmal
dann, wenn die Leser sich von einer
etwaigen Führergebärde täuschen
lassen, bis sie doch endlich bemer-
ken, daß die Aufregung ja nie-
mals einen neuen Gedanken er-
zeugt. Solche Blätter können für
weite Kreise sogar sehr nützlich sein
als Verbreiter und als Vorbereiter,
denn sie sind leichter verständlich,
weil hier schon ein zweites Gehirn
aus einer schwierigen Nahrung das
leichtest Aufnehmbare herausgelesen
hat und es nun wohl nochmals
leichter faßlich zurecht macht. Sie
geben das Korn den schwächeren
Gehirnen vorgemahlen — und
solche Gehirne stört es nicht, daß
es nun keine gewachsene Form
mehr hat. Wir trsffen also die-
selbe Erscheinung, die zu allen
Literatur- und Kunstzeiten die
Nachahmer, Vermittler und Ver-
werter schneller populär werden
läßt, als ihre Nährväter, die
Schöpfer. Schneller, nicht dauern-
der. Denn die erstarkten Gehirne,
von denen es doch schließlich ab-
hängt, was bleibt, sie scheuen
die Mehrarbeit beim Aufnehmen
schöpferischer Zätigkeit nicht. Sie
empfinden zu wohlig, daß sieallein
durch diese Mehrarbeit selbst
Miterlebende des wundervollen Vor-
gangs werden, wie das Heute der
Kultur sich in ihr Morgen wan-
delt. Deshalb erkennen wir Leser

die Persönlichkeiten unter den
andern Lesern so sicher daran, daß
sie niemals Verwerter für Schöpfer
halten und daß ihnen unter den
Verwertern wieder die am wenig-
sten erfreulich siud, die sich als
Schöpfer gehaben. Der natürliche
Zug innerer Wesensverwandtschaft
zieht sie zu den „Selber-ianernZ
den Eigenen. Und nicht nur auch
dann, sondern dann erst recht,
wenn sie sich im lesenden Verkehr
mit ihnen auch im Widerspruch
zu ihnen finden. Denn eben daran
fühlen sie, daß ihr Geist sich ent-
wickelt, wie sich der Körper ent-
wickelt, wenn er turnt. A

„Der Kinderfreund"

Etwas zur Sprachpflege

or kurzem fand ich in einer
der wenigen Zeitungen, die
man „vornehm" nennen kann, den
kurzen Bericht über das endliche
Erwischen eines Unholds, der
schon seit langem Kinder unsittlich
angegriffen hatte. In der Äber-
schrift wie im Texte war der
Mann „der Kinderfreund" genannt.
Die — konservative — Zeitung
hätte das ganz gewiß nicht getan,
wenn die Anwendung des Wortes
„Kinderfreund" in diesem Zusam-
menhange nicht schon gang und
gäbe wäre.

Soll's dabei bleiben?

Vor etwa dreißig Iahren kam
einmal in einer Gesellschaft gebil-
deter und freidenkender Leute das
Gespräch auf Attentäter ähnlicher
Sorte, und mir entfuhr dabei
der Ausdruck „Kinderfreund". Ich
habe das nicht vergessen, weil ich
noch fühle, wie mir die verwunder-
ten Blicke der andern als eine Zu-
rechtweisung erschienen. Sei's drum,
man mag gelegentlich die Dinge
auch zynisch nehmen und einen
zynischen „Witz" dazu machen, wie
den mit dem „Kinderfreund" un-

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