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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1912)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0156

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zweifelhaft schon tausend Leute vor
mir gemacht hatten. Aber damats
war noch keine Rede davon, das
Wort in der Presse anders, als
seinem alten freundlichen Sinne
nach zu brauchen, und in guter
Gesellschaft hatte man noch sehr
lebhaft das Gefühl: ein so gutes
Wort sollte man nicht degradieren.
Mir scheint: heute sollte man das
erst recht nicht tun, heute, wo wir
glücklich so weit gekommen sind,
daß sich einer, der Kinder liebt,
scheuen könnte, mit ihnen sreund-
lich zu sein, weil der Verdacht
nach Perversität, dreimal berechtigt,
das vierte Mal das Reinste be--
schmutzen kann. Deshalb schlage ich
vor: weg mit der ironischen An-
wendung des Wortes „Kinder-
sreund'tz wo nicht wirklich eine
Ironie oder Satire, sondern ein-
fach eine sachliche MiLteilung ge-
geben wird! A

Wolzogen als Erzketzer

(Vierter Literaturbrief)

uch ich, verehrter Freund, habe
mir natürlich sogleich Ernst
von Wolzogens neuen Noman*
kommen lassen, sobald ich gelesen
hatte, daß er selbst ihn als ein unge--
wöhnlich ernstes Buch bezeichnete,
das eben seines Ernstes wegen im
Gegensatz zu seinen weitberühmten
Humoristiken „keine Katz" kenne.
Bin ich doch mit Ihnen darüber
einig, daß wir an Büchern von
vernünstigem Kulturdenken keinen
Äberfluß haben, daß Ernst Wol-
zogen durch Büchsr und Aufsätze
längst Zeugnisse einer wesentlich
gehaltvolleren Lebensaufsassung ge-
geben hat, als man allgemein aus
seinem „Äberbrettl" erschlossen hatte,
endlich, daß denkende Vertreter
guten Adels, wenn sie ein paar

* den „Erzketzer", 2 Bände,
Verlag F. Fontane, Dahlem, (0M.

(2^

Vorurteile erst hinter sich gebracht
haben, für uns zu den vertrauens-
würdigsten und angenehmsten Mit-
arbeitern in Kulturfragen gehören.
Sie haben Kultur, die Polenz
und Lgidy, Lolstoi und Maartens,
und mehr als ein Lebenskreis ist
ihnen erschlossen gewesen, der so-
wohl Wolzogens „Lbaiin, Fr.

Balder aus Krotoschin, Kritiker der
»Welt der Großstadt«", wie dem
trefslichen Dichter Hannes Bohnen-
stiel verschlossen blieb.

Soweit mit Ihnen einig, bin ich
doch um ein paar Grade skeptischer
an diesen Erzketzer herangegangen
als Sie. Ia, was Sie rühmen,
finde ich auch in dem Buch: offnen
Blick für Wirklichkeiten, wenn-
gleich durch Idealismus „gemil-
dert", eine „anständige Gesinnung",
die mehr wert ist, als die üblichen
Gänsefüßchen darum heute glauben
machen wollen, literarische und
Welterfahrung und dazu Schreib-
fähigkeit wie sie nicht häufig ist.
Aber die Grundlagel Ich bin der
Letzte, zu verkennen, daß lange
nicht alles auf wissenschaftliche
Fachmännerei ankommt, ich weiß,
daß wissenschaftliche Bildung aus
einem Kunstgelehrten nie einen
fühlsamen Kunstkritiker macht und
daß nicht alles, was man zu sagen
hat, wissenschastlich gestempelt sein
kann. Und dennoch — eine Denk-
weise, Denkform, Denkmechanik, die
Unwissenschaftlichkeit erkennen läßt,
steht uns niedriger im Wert. Was
will uns ein Pädagog, der nicht
mit Wissenschaft in Berührung
kam? Ein Sexualethiker — Ver-
zeihung für diese Mißgeburt von
Wort — oder ein Rassentheoretiker,
der nicht von den Tatsachen, son-
dern von Tendenzen ausgeht? Ein
Kulturpolitiker, dessen Waffen nicht
Ergebnisse sind energischen Durch-
arbeitens des Kulturstosfs nach
wissenschaftlichen Methoden? Sie

Kunstwart XXVI, 2
 
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