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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1912)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0411

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Leise, tief ergriffen, schüttelte der alte Pfuel das Haupt mit dem
langeu schneeweißen Haar.

Lassalle hob emphatisch die geballten Fnuste. „Wir branchen nichts
als einen entschlossenen Führer, der die Fahne flattern läßt. Der wird
sich finden."

Er machte eine Pause. Alle starrten ihm in das entschlossene metall--
harte Gesicht.

Da sagte er gnnig: „Deutsche Männer dürfen nicht beisammen sein,
ohne derer zu gedenken, die diese grausame Zeit gemordet hat; derer, die
seit langen Iahren in den Zuchthäusern modern; derer, die in weiter
Ferne das harte Brot der Verbannung zehren. Denken Sie, meine Herren,
an die Freiligrath, Marx, Bucher, Kinkel und all die andern Namen,
die uns die Fäuste dereinst ballen werden zum Kampfe. Voran leuchte
uns allerwege meines herzlieben Freundes Freiligrath Mahnung der
»Toten an die Lebendigen«:

»Zuviel des Hohns, zuviel der Schmach wird täglich euch geboten:

Euch muß der Grimm geblieben sein — o, glaubt es uns, den Toten!

Er blieb euch! ja, und er erwacht! er wird und muß erwachen,

Die halbe Revolution zur ganzen wird er machen!

Er wartet nur des Augenblicks, dann springt er auf allmächtig:

Erhobnen Armes, wehnden Haars dasteht er wild und prächtig!

Die rostge Büchse legt er an, mit Fensterblei geladen,

Die rote Fahne läßt er wehn hoch auf den Barrikaden!«

Meine Herren, das Glas auf diesen Grimm!"

Er hatte so aufwühlend, empörertrotzig deklamiert, daß er sie alle,
mochten sie ihm in tiefster Seele beistimmen oder nicht, von ihren Stühlen
emporriß. Auch der Rittmeister ließ sein Glas hell erklingen. „Der
Schönheit Ihrer Begeisterung!" sagte er lächelnd.-

Rach Tisch las Scherenberg auf Bitten des Hausherrn im Arbeits-
zimmer einige Abschnitte aus seinem „Franklin". Grandiose Schilde-
rungen von Eis und Schnee.

Hingerissen unterbrach ihn Lassalle einmal: „Göttlich, mein Scheren-
berg, wie schön, wie herrlich! Seien Sie von Herzen dafür bedankt.
Diese Schilderung des Polarmeeres. Ein besseres Eis ist sicher keinem
meiner lieben Gäste je präsentiert worden. Nur weiter, weiter!"

Und dann phantasierte Bülow auf dem Flügel bis lange nach Mitter-
nacht.

Amd als die Herren sich vor der Haustür trennten, rief Pietsch ganz
außer sich vor Bewunderung: „Aber das ist ja ein Mensch aus einem
Hackländerschen Roman! Gibt es denn so etwas in unserem heutigen
philiströsen Berlin?"

Da versammelte Duncker die Auseinanderstrebenden noch einmal um
sich im Kreise.

„Ich verstehe den Mann dort oben sehr gut. Er ist einer von jenen
Naturen, die mit einer unbändigen seelischen Kraft begabt, diese immerzu
bis zum äußersten anspannen und verwerten müssen. Eine genialische
Natur. Solche besitzen stets zugleich den Trieb, Taten zu vollbringen,
gute Taten, Opfertaten, für andere zu kämpfen.

Er erzählte einmal meiner Frau, als Knabe habe er sich geschworen,
seine bedrückten Glaubensgenossen zum alten Glanze zurückzuführen. Mit

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