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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 20 (2. Juliheft)
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Rohrbach, Paul: Ostpolitik, 3: die Baltische Frage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0071

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nicht über See ging, so gelangte die zusammenhängende deutsche Siedlung
in dem großen östlichen Kolonialgebiet nur bis an den Memelstrom. Da-
hinter lag Litauen, das der deutsche Orden nicht bezwingen konnte, und
sperrte den Weg nach Kurland und Livland bis auf eine schmale und
unsichere Verbindung unmittelbar an der Küste. Der adlige Grund-
besitz, die Städte und die höheren Berufe im baltischen Lande wurden
deutsch, die Bauern blieben in Estland und Nordlivland Esten, in Süd-
livland und Kurland Letten. Sie waren Leibeigene der Großgrundbe-
sitzer bis zum Anfang des Iahrhunderts, wurden dann durch die eigene
Initiative der baltischen Ritterschaft befreit und gelangten durch eine klug
und großzügig verwirklichte Agrarreform in der zweiten Hälfte des Iahr-
hunderts zu bedeutendem Wohlstand. Etwa die Hälfte des privaten Grund-
besitzes auf dem flachen Lande war schließlich in bäuerlicher Hand, über-
wiegend in der Form von Großbauernwirtschaften. Die lsttischen und
estnischen Land- und Fabrikarbeiter erfanden für die Bauernwirte den
Namen „Graue Barone". Gegeu diese besitzende Schicht auf dem Lande
und gegen die lettisch-estnische Bourgeoisie in den Städten richtet sich der
einheimische und russische Bolschewismus ganz ebenso, wie gegen die bal-
tischen Deutschen.

Der livländische Ordensstaat und die ihm angeschlossenen geistlichen
Fürstentümer und Städte (Riga, Reval und Dorpat) brachen im (6. Iahr-
hundert vor dem erneuten Ansturm der Russen unter Iwan dem Schreck-
lichen zusammen. Iwan genoß aber nicht die Frucht seines Sieges, son-
dern Poleu und Schweden entrissen ihm die Beute und teilten sich in das
Land. Erst unter Peter dem Großen — Kurland kam sogar erst unter
Katharina II. dazu — wurde das baltische Gebiet russisch. Währsnd der
200 Iahre Russenherrschaft ist es aber weder dazu gekommeu, daß rus-
sische Elemente in größerer Zahl einwanderten, noch daß die Einheimischen
russifiziert wurden. In dsn letzten Iahren vor dem Weltkrieg plante die
russische Regierung eine Massenansiedlung von 300 000 großrussischen
Bauern auf den Domänen, namentlich in Kurland, und suchte auch aus
privater Hand Güter dafür zu erwerben, aber der Krieg machte den Plan
zunichte. Noch einmal während des Krieges selbst versuchten die Russen,
ähnlich wie in Litauen und im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet, indem
sie den größten Teil der Landbevölkerung beim Linrücken der Deutschen
aus Kurland fortschleppten, hier den Boden für eine spätere russische Massen-
kolonisation freizumachen, doch der schließliche Sieg, der dazu gehört hätte,
blieb aus.

Wäre das baltische Gebiet russisches Land geworden, so würde das
Nussentum heute damit in geschlossener Masse bis an die Ostsee reichen
und auf diese Weise fest seinen Fuß ins abendländische Europa gesetzt
haben. Dadurch aber, daß Letten und Esten und das baltische Deutschtum
sich siebenhundert Iahre lang durch alle Gefahren, Zerstörungen und
Kriege hindurch erhalten haben, besteht an dieser Stelle ein breiter Damm
zwischen Rußland und dem eigentlichen Europa. Auch die geographische
Trennungslinie, der Peipussee und die von Sumpf und Wasser erfüllte
litauische Seenplatte von Dünaburg bis Kowno, ist deutlich, und sie hat
auch in diesem letzten deutsch-russischen Kriege eine wichtige Rolle gespielt.
Weder Esten noch Letten wollen zu Rußland. Der Este mißachtet das
haltlose und unordentliche russische Wesen von Grund auf. Für den ge°
bildeten Russen hat er in seiner Sprache die Bezeichnung „russischer

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