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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 20 (2. Juliheft)
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Avenarius, Ferdinand: Zu Gottfried Kellers Gedenktag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0076

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Mörike, geschweige Keller, und wenn man sie endlich kennen lernte, so
fand man an ihnen nicht viel. Wer „modern interessiert" war, dem ging es
um Zola und Ibsen.

Es gab auch in den folgenden Iahren gar nicht viele »literarische
Kämpfe" um Keller. Man schwieg von ihm — aber plötzlich war er
anerkannt. Nämlich: es gibt in Deutschland abseit aller Schreiberei und
Druckerei noch eine öffentliche Meinung, die sich von Mund zu Mund
weiter spricht. Zwar: Während die regierenden Literaten schreibend
Größen machen, kann diese gesprochene öffentliche Meinung nur Größen
erkennen. Aber seltsam, die gelten dann!

Kellern lag es nicht einmal im „Salamander", irgend eine Gruppe von
Erscheinungen aus dem Ganzen herauszulösen, geschweige denn auf das
Begriffliche hin. Gab er Betrachtungen und Sentenzen, so fielen sie ihm
wie der Apfel vom Baum, als gewachsene Frucht, und wenn sich's bei
seinen Glossen nicht um sehr Wichtiges handelt, so merkt man: nicht sie
zu fangen, sondern sie zu formen, das machte ihm den Spaß. Zwar,
auch er ist „Moralist", ist Ethiker, aber vor allem: er ist Poet, Schöpfer,
tzerausheber aus dem großen Lebensquell, aus dem jedes ans Licht ge--
brachte Becherlein das Ganze schmecken läßt, eben das Leben. Auf das
geht's ihm, es ist eine vollkommen andre Einstellung: auf das Drinken,
„was die Wimper hält von dem goldnen Äberfluß der Welt". Du siehst
nicht, wie bei Ibsen oder Zola oder dem Allervortrefflichsten sonst, der
lehren oder bekehren will: „dies da ist so, das sollte anders sein", den Teil,
oder eine Seite der Erscheinungen. Sondern dein fühlend Schauen umfaßt
bei Keller immer zugleich mit dem Teil das Ganze. Wie der verschmitzte
Palaeontologe mit den versteinerten Knochen das unsichtbare Tier gleich
als Vollgestalt in den Kopf nimmt, und noch mehr als das Tier: auch
die Schachtelhalme darüber und den Sumpf darum, auch die vergangene
Welt von einst, und sogar, was vor ihr war und auch, was nach ihr und
aus ihr ward, und auch das, was all das gemacht hat, auch — ja, nennen
wir's: Gott. Da verweilst du denn bei besagter Linzelerscheinung trotz
etwaiger Autorsprüchlein nur wie beim Tor, bis es aufgeht — Keller
wäre kein gar so guter Agitator für irgendwas geworden. Du denkst wahr-
scheinlich gar nicht nach: wie denn das zu „bewerten" sei. Aber du fühlst
das Einzelne, als Teil vom Großen, selber groß. Bei Keller hat jedes
Käferchen so wundersame Antennen, daß sie die Welt in sich hineinziehn.
Das tun seine „Käfer" also, und zwar tun sie's, ohne daß ihr Herr Bater, Vor-
führer und Dresseur darauf aufmerksam machte: »beachten Sie, meine Herr-
schaften, das kann er". Ganz nüchtern gesagt: Keller hat an jeglichem
Ding nicht eingelernte, sondern aus eignem Erleben erzeugte Assoziationen
vom Kleinsten zum Größern und Größten so regsam, daß sie dem gestal-
tenden Worte immer das mitgeben, was zu seinem, was zum Kellerschen
Weltgefühl hinleitet. Das aber schwingt seine zehntausend Sphären
mit so wohlabgewogenen Gewichten, daß sich alles in vollendeter Harmonie
bewegt, daß also seine Gesamt-Stimmung die sicherste Ruhe ist.

Wer darauf näher eingehen wollte, der käme nun freilich zur Frage
von Kellers Persönlichkeit. Ein dickes weißes Buch her, daß man's voll-
schreibe über Kellers Tragik und über seinen Humor (welche bei ihm zwei
Schwestern sind, die fast immer mitsammen sticken und weben), oder über
Keller und sein Verhältnis zur Frau (was ein wehmütiges Kapitel ergäbe,
denn vielleicht dichtete er die Frau schöner als irgendwer, weil er keine

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