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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 20 (2. Juliheft)
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Avenarius, Ferdinand: Zu Gottfried Kellers Gedenktag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0078

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„Augen, meine lieben Fensterlein." Das Gedicht leuchtete immer im
Abendrote um uns mit.

Aber freilich, vor allem war er ja ihr Soh n. Nicht lange vorher hatte
ich ihn beim großen Sängerfest gesehn, wie ein paar tausend geschulte
Stimmeu „O mein Heimatland, o mein Vaterland" ihm aus allen Kantonen
zusangen. Noch andre Stimmen waren da, auch gut schweizerische, die
noch weiter herkamen: aus der Vergangenheit, aus alten Iahrhunderten,
von den Gewesenen, die nun wieder Ilnterirdische waren und doch bergher
in allen Stadt-- und Dorfbrunnen der Schweiz, wenn nicht Tages, so
mindestens zur Nacht wieder laut wurden. Kellern sangen sie herzher
immerdar im Blut. Diese Gewesenen, deren Gesamtheit in dem Maße
das Wesentliche ist, wie Wurzel, Stamm und Aste am Lebensbaum, während
das Heute doch nur sein äußerstes Wuchsspitzlein ist, an dem er just bildet.
Die Gewesenen, die ja in jedem echten Poeten so gewiß die erheblichst
Beteiligten sind, wie echte Poesie vor allem aus den Säften im Dunkeln
wächst. Die Gewesenen, das heißt: das Dauerleben eines Volkes. Dieses
zusammenhaltende und aus sich heraus treibende Eine der Schweiz hat
in Keller seinen größten Offenbarer-Dichter gefunden. Und da das deutsche
Schweizertum in seinem Wesen so grunddeutsch ist, wie im Reich nur
noch ganz wenige Stämme, deshalb empfinden auch wir Reichsdeutschen
Kellern als einen Kerndeutschen von Blut, als einen Offenbarer, Bereicherer,
Gestalter und Erzieher des Germanischen auch für uns.

„Augen, meine lieben Fensterlein" . . .

Ia freilich, diese Augen ließen ihm auch Bild auf Bild aus dem herein,
was zu seinen damaligen Lebtagen geschah. In die Fülle all des Ererbten
mit all seinem malerischen Gedämmer leuchtete dann bis zum Glänzen und
gelegentlich sogar, daß es weh tat, das Heute. Andre Male tat es Bilder
darein in besonderen Rahmen und mit dem Reiz der Camera obscura-
Bilder, die belebt, bewegt uird doch leise sind. In Keller, der doch auch
ein Mitarbeiter am Staate Zürich war, nahmen begierig diesseitige Organe
das Heute auf. In dem überaus klugen Kopf ward es dann mit vorbe-
haltlos ehrlicher Wahrhaftigkeit verarbeitet. Vorbehaltlos ehrlich war er
auch dann, wenn er sich selber mit seinen Schwächen besah. Weiß
einer, wie oft er im stillen Kämmerlein sich gesagt hat: „Du Chaib"? Scham-
haft, scheu und deshalb rauh gegenüber den andern, hat es Keller sein
Leben lang zwar ganz als seine Privatsache betrachtet, sich selber vorzu-
kriegen, aber er hat das höchst erzieherisch getan. War es nur Willen-
schwäche, was ihn so oft und so lange nicht zum Ausformen und Abschließen
kommen ließ? Oder kam das von einer Träumer-Anlage her, die ihre Arbeit
im Träumen auch schon beschlossen glaubte, abgemacht, wie wenn einer am
Klavier phantasiert? Vielleicht kann uns die Psychanalyse einmal sagen,
ob etwa der Traumduft Kellerscher Dichtung damit oder wohl gar mit der
geheimen Munterkeit der Herren Vorfahren etwas zu tun hat, die in des
Meisters Dachstüblein spukten. Sie waren ihm nicht nur Mitspieler, sie
waren ihm auch Publikum und Kritik. Ich glaube, er hätte sich schon
ihrer nüchternen Gesichter wegen vor dem Ausschreien und Ausweinen
seiner Schmerzen gescheut, das damals wie heute an der Literaturbörse so
„gefragt" war. Ein Todfeind aller Weichlichkeit, machte er mit sich selbst
seine Ringkämpfe ab. Natürlich, das führte zu allerlei Humoren. Aber
schließlich zu dem Humor. Zum großen Humore, meine ich — jKeller
ist nicht nur neben Iean Paul unser größter Humorist, sondern er steht im

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