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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1919)
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Troeltsch, Ernst: Demokratie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0116

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Da geschah das Furchtbare. Eine zweite, eine sozialistische Revolution zerriß
über Nacht diese Äberleitung nnd schuf in der bedrängtesten, durch entsetzliche
Waffenstillstandsbedingungen gefährdeten Weltlage des Reiches an Stelle
einer durchgebildeten und den Äbergang besonnen vollziehenden Demokratie
das vollkommene Chaos. Die Hergänge im einzelnen sind vielsach noch sehr
dunkel. Die Sache schien zunächst relativ erträglich, ein Äbergang der Regie-
rung an die Mehrheitssozialisten, die unter der Voraussetzung der Mitarbeit
des bisherigen militärischen und administrativen Apparates durch tüchtige
Persönlichkeiten die Ordnung aufrecht erhielten und etne neue Verfassung auf
rechtlichem Wege in Gang bringen zu können schienen. Aber nach und nach
zeigten sich auch öffentlich die eigentlichen Urheber und Triebkräfte der Re--
volution, die von den Mehrheitssozialisten nur sozusagen aufgefangen war:
die nach russischem Vorbild und mit russischen Mitteln gebildeten Soldaten-
und Arbeiterräte, eine auf stark anarchistische Ideen aufgebaute, jeden
Staat überhaupt verneinende und ihn durch zahllose und regellose Selbst-
verwaltungen ersetzende Revolution der Soldaten und Proletarier im
engsten Zusammenhang. Das kam sofort zum Ausdruck in der überall auf-
gerichteten Doppelherrschaft von Anabhängigen und Mehrheitssozialisten.
Immer deutlicher wurde damit zugleich, daß diese Revolution eine
sozialistische und durchaus keine demokratische war, das heißt auf dem
bestimmten Marxistischen Programm beruhte, dessen dialektische Grundlehre
die Aufsammlung aller rein menschlichen, moralischen und wirtschaftlichen
Kräfte im Proletariat und den Amschlag dieser Aufsammlung in eine
Erlösung des gesamten Volkes und womöglich der Kulturvölker überhaupt
zu freier, edler, menschenwürdiger Existenz Aller bedeutet. Das große,
neue Mittel, diesen Amschlag herbeizuführen, sollte die „Diktatur des
Proletariats" sein, aus der aber Völkerversöhnung und allgemeine
Frsiheit und alle Individuen befriedigende Lebensmöglichkeit als ihr
Ergebnis hervorgehen sollen; eine vollkommen ausgebildete und auf
der Höhe der Technik stehende Wirtschaft soll nach diesem Programm zu-
gleich durch diese Diktatur übernommen und ihrem wahren Zwecke, dem
Glück und der Gesundheit des ganzen Volkes, dienstbar gemacht werden.
Dieses Evangelium band mehr oder minder alle, auch die Mehrheits-
sozialisten, und machte ihnen, abgesehen von anderen, in der materiellen
Schwäche ihrer Stellung liegenden Gründen, die Aubedenklichkeit in der
sofort mit allen Kräften einsetzenden Aufrechterhaltnng der Ordnung psycho-
logisch allem Anschein nach unmöglich. Im weiteren Verlauf der Dinge
kamen dann alle die schweren Probleme zum Vorschein, die in diesem Begriff
der Diktatur des Proletariats liegen. Durch ausgesprochenste und cxtreurste
Klassenherrschaft den Klassenstaat überwinden, die Klassen einigen und ihre
gemeinsame Arbeit organisieren: ist das überhaupt möglich? Am so mehr,
wenn damit der ganze Weltanschauungsdruck einer bestimmten Dogmatik
und religionsfeindlichen Kulturpolitik verbunden ist oder verbunden scheint?
Solcher Sozialismus, der nicht Organisation des Ganzen im Interesse des
Ganzen, fondern Herrschaft einer Klasse und Siegesfeier eines bestimmten,
intoleranten Glaubens ist, wirkt naturgemäß nicht sozialisierend, sondern
sprengend. Wer kann, will von einem Reiche los, das'ihm diesen Druck
auferlegt. And wie er das Reichsganze fprengt, so wirkt er durch die An-
gewohntheit des Regierens und durch die Rücksicht auf die russisch-anarchisti-
schen Klassengenossen auf die Verwaltung überall desorganisierend, auf
die kreditbedürftige und Ordnung voraussetzende Wirtschaft lähmend, auf
 
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