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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 21 (1. Augustheft 1919)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0143

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Aber eines Tages wurde die Erde von einem Sonnenstrahl mitten
ins Herz getroffen — da öffnete sich ihr Herz. Und aus diesem wallt nun
das Leben heraus. In breiten Strömen wogt es daher — in leisen Tropfen
rieselt es. . . . E8 steigt hinauf in die großen Baumstämme, so daß
sich die Wipfel mit neuem, jungem Laub bedecken — und es sickert hinein
in jeden einzelnen Blumenstengel.

Und der Mensch ist nicht ausgeschlossen,- auch er hat teil daran — er
fühlt alles, alles in sich selbst.

Ach, wie verschlossen ist Sulla gewesen, starr und kalt so viele Iahre
lang! Wie eine Schlafwandlerin ist sie einhergeschritten . . ., aber jetzt ist
ihr das Herz zum Zerspringen voll. Das Leben, das sie aufquellen ge--
fühlt hat, will sich betätigen.

Sie steht mitten auf dem Rasen und lehnt sich an den Birnbaum; ihre
Hände greifen nach den mit Knospen bedeckten Zweigen.

Ietzt tritt jemand in den Garten — grüßt zu ihr herüber und bleibt, von
der herrlichen Frühlingspracht ganz geblendet, stehen.

Das Herz öffnet sich, das Herz öffnet sich! Das Blut wallt ihr in einem
warmen Strom durch den ganzen Körper. . . . Das Leben braust ihr
in den Adern . . ., in jedem Tropfen Blut pocht ihr Herz.

Ist sie eben erst geschasfen worden? Die Welt hat ja in einem ver--
schlossenen Garten begonnen! Ist es derselbe, der hier um sie her blüht?
Ist er es, der wie ein Traum hinter dem Garten ihrer Kindheit lag, der--
selbe, dem die kleinen Mädchen den Märchennamen gegeben hatten?
Hat er sich jetzt vollkommen vor ihr aufgetan? Ia, jetzt steht sie drin —
mitten drinnen-

Ist sie selbst aus dieser fruchtbaren, sonnendurchfluteten Erde geschaffen,
und ist ihr hier der Lebensodem eingeblasen worden, daß sie nun eine
lebende Seele geworden ist?

Nein — bei ihr ist es anders zugegangen. Ist sie aus der warmen,
klopfenden Herzenskammer eines andern genommen worden, und deshalb
nur Herz, nichts als Herz?

Sie weiß es nicht — aber jetzt lebt sie, jetzt fühlt sie, daß sie lebt —
nun weiß sie, weiß mit offenen Augen, wer sie ist —, und was sie als
eine ahnungsvolle Sehnsucht in sich getragen hatte — ihr Herz hat sein
Geheimnis erschlossen. ^

G

/Ls ist von jeher ein wunderbarer Garten gewesen — auch bei Tag.
^Niemals konnte es ganz ausgelöscht werden, das Gepräge von der
heimlichen Welt, die sich in allen den grünen Winkeln barg.

Aber wenn der Garten vom Vollmondschein übergossen daliegt, ent-
schleiert er sich vertrauensvoll und ganz selbstverständlich; und die ver--
borgene Welt tritt in voller Klarheit hervor.

Ende Mai wirft der Mondschein ja keine so scharfe schwarze Schatten,
oder einen so blendend hellen Glanz wie in den dunklen Nächten. Nnd doch
gleiten die Büsche und Bäume, die die Gartenwege umsäumen, in eine
bläuliche Dunkelheit hinein, die für das Auge kein Ende hat, die weiter
und weiter zurückzuwogen scheint — in die nächtliche Tiefe großer, ferner
Wälder hinein. Nur von den festlichen Blütenkerzen des Kastanienbaums
ragen einige in die Mondhelle heraus, und die Narzissen, deren Stengel
unsichtbar sind, heben sich wie eine Milchstraße aus blassen, silberschimmern--
den Sternen von dem dunklen Hintergrund ab.
 
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