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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 21 (1. Augustheft 1919)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0145

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schrieben steht, dann hätte er immer-
hin von Dorf zu Dorf und von Stadt
zu Stadt reisen, Vorträge halten, Bü-
cher schreiben und Zeitschriften heraus-
geben können, um seine Wahrheit den
Brüdern zu bringen. Aber gerade das
hat er nicht getan. Er war kein Lehrer
oder Aufklärer im gewohnten Sinne
dieser Namen. Er entschloß sich viel-
mehr, vor den Augen seiner Brüder
zu leben und seinen königlichen Tod
zu sterben, und was er dabei sagte,
hatte nur den Zweck, das alles zu deu-
ten und zur Nachfolge einzuladen.
Denn nur die erlebte, nicht aber die
gelehrte Wahrheit glüht die Seele an
und läßt sie nach oben flammen. Es
mutet uns wie ein Nachhall jenes ein-
zigartigen Tuns an, wenn Kant es
als seine Aufgabe betrachtete, seine
Schüler nicht die Philosophie, sondern
das Philosophieren zu lehren. Der Geist
der Wahrheit soll uns nach dem Wort
jenes Größeren in alle Wahrheit lei-
ten. Er will uns zur Quelle führen,
nicht nur das lebendige Wasser in einer
Röhrenleitung in unsre Häuser fließen
lassen, damit wir nur den Hahn auf-
zudrehen brauchten, um zu trinken.
Wohl werden wir uns nach wie vor
Gedanken aus Büchern anlesen und
Wissen aneignen, aber die Wahrheit
wartet weit draußen und tief drinncn
auf uns, bis wir zu ihr kommen.
Wahrheiten mögen auf dem Weg durch
den Kopf in uns hereinströmen, aber
d i e Wahrheit wird erlebt, und nur die
erlebte Wahrheit macht uns frei.

Ehristian Geher

Neue Krisen und Möglichkeiten

eden Augenblick wandelt sich das
Bild der Lage und gehcn neue Ver-
hältnisse und ncue Ausblicke auf. Ge-
genüber der Lage beim Ausbruch der
Revolution, der Aufdrängung der Waf-
fenstillstandsbedingungen, dem Zusam-
mcntritt dcr Nationalversammlung
haben sich dic Dinge bereits wieder in
rasendem Wechsel gänzlich ver'choben
und sind zum Teil Vcrhältnisse ein-
getreten, die den damaligen Zustän-
dcn und den darauf begründeten Be-
rechnungen gcradezu widersprechen. Die
damals allmächtige Sozialdemokratie,
die mit allen Kräften sich gegen die
drohende Revolution gestemmt und

dann die ausgebrochene und siegreiche
auf ihr Konto übernommen und als
ihr eigenes Werk gefeiert hat, ist in
starker Zersetzung. Das Zentrum, das
damals durch seine Arbeiter von der
Spaltung bedroht war und bei den
Wahlen hinter Sozialisten und Deutsch-
demokraten weit zurücktrat, ist wenig-
stens im Reich wieder Lrumpf. Die
Klärung und Ordnung, die man von
der Nationalversammlung erwartet
hatte, ist nicht eingetreten, sondern statt
dessen eine steigende Zerspaltung und
Verwirrung, die das Reich geradezu
mit dem Zerfall bedroht und die innere
Ordnung und dic Produktionsfähigkeit
stets von neuem in Frage stellt. Zwar
ist es gelungen, eine wenigstens er-
trägliche Verfassung mit den notwen-
digsten unitarischen Einrichtungen zu
schaffen; aber niemand weiß, ob sie
auch zur Ausführung und Anwendung
kommen kann. Alle Welt denkt daher
unwillkürlich an die Diktatur und fragt
sich, woher sic kommen könne oder werde.

Der tiefste Grund von alledem ist
die Nuhelosigkeit der Nadikalen, die
von der Revolution die Hcrrschaft der
Masse wie in Rußland erwartcten und
denen Anarchisten, Kommunistcn, Un-
abhängige und zahllose Hetzer, Phan-
tasten und Träumer in verschiedener
und beständig wechselnder Weise sich
angeschlossen haben. Iugleich ist es bei
der Unzuverlässigkcit des Grenzdienstes
nicht gclungcn, russische und ungarische
Geldhilfen auszuschließen, von dort
kommende Agitatoren und Ncdakteure
fernzuhalten. Auch die hcrrschende
Sozialdemokratie hat eben eine Seite,
nach der hin sie für diese Dinge offen
ist, und steht überdies unter dem bestän-
digen Druck drohender Verluste an die
Unabhängigen, so daß hier eine sichere
Grenze trotz allen heftigen Gegensatzes
nicht vorhanden ist. Der von der So-
zialdemokratic beherrschte Parlamcn-
tarismus, wo nicht die Minister, son-
dern durch sie die Fraktion bis ins
Einzelne regiert, und die Schwächung
des ganzen ohnedies nicht sachkundig
beherrschten Regierungsapparates durch
eine oft sinnlose Amterversorgung der
Parteigenossen haben die Widerstands»
kraft nicht gesteigert, sondern beständig
verringert. So liegen dauernde Krisen
und Enticheidungskämpfe mit dem Kom-

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