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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 22 (2. Augustheft 1919)
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Schliepmann, Hans: Die Wenigen und die Vielen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0186

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diesem zweifeln und nie dem zweiten, dem prüfenden Gedanken, noch Gehör
geben, die Brüller der Phrase in den Straßen und in der Lügenpresse.
Diese Menge aber war in der Wekt eine Macht geworden! Unter der
größten, naturwidrigsten Phrase der französischen Revolution, daß die Men--
schen alle gleich seien, waren die Massen mitlenkend in die Geschicke des
Volkes eingetreten. Nur nicht in Rußland, das in der Entwicklung um
etwa anderthalb Iahrhunderte gegen Europa zurückgeblieben ist und über-
haupt noch kein eigentliches „Volk" herausgebildet hat, in seiner herrschen--
den Kaste aber alle „Fäulnis des Westens" zeigt, s» daß es unter -em
rollenden Rubel nur noch eine Karikatur des Despotenstaates ist. Dem
Frankreichs aber hat das Sanskulottengesindel das beste Blut so reichlich
abgezapft, daß von l.792 an der Abstieg der „ritterlichen Nation" un--
aufhaltsam war. Was sie noch an guten Elementen hat, kämpft mit un--
leugbarer Tapferkeit in -en Schützengräben; die Macht aber ruht bei
volksfremden Volksmachern und zungendreschenden Advokaten, ist eine
Macht aller Vorteilsjäger.

Ein Reich des Guten läßt sich nicht schaffen. Wohl aber ein Reich
der Guten! Wenn nur den Guten der eiserne Wille kommt, wenn sie
ihn nur nicht erst verpulvern mit Höherziehenwollen der ewig Niedrigen!
Die Hand jedem, der empor will aus dem Sumpf; aber keinen Finger
dem, der die Aufstrebenden hinabziehen will! So nur schaffen wir eine
rechte Auslese der Tüchtigen; so nur bewahren wir uns vor drohender
Entedelung. Aber so auch folgt uns schließlich die Menge. Sie hat Macht
nur gegen die Schwankenden, weicht aber überall vor sestem Willen zurück
und huldigt schließlich dem Glanz ihres Bändigers.

Brauchbar für die Menschheit sind immer nur die, denen Erkennen
über Erkannthaben geht ünd die darum die Anpassungsfähigkeit an
das Leben mit seinen immer wechselnden Aufgaben bewahrt haben, die
sie geschickt macht, für jede neue Gelegenheit die passende eigene Melodie
zu fpielen. Desto brauchbarer, ja genialer, wenn die Menge aufzulauschen
versteht!

Der Querkopf schimpft; der verkannte Genius eiserner Willenskraft schafft!
Das trifft immer! Hat das Gelichter jemals die Größen seiner Zeit erkannt?

Es ist nicht Phantastik, das Ziel ins Nnendliche zu setzen, wenn wir
nur innebleiben, daß das Ziel auf dem Wege der Entwicklungsmöglich-
keit liegt, dem Wege, der uns vom Neandertalmenschen zum Arier ge--
macht hat, und daß auf diesem Wege das R ich tun g h alten der Ge--
genwart, das Ziel erst fernerer Zukunf t gehört. Daß Glaube Berge
versetzt. Daß das 'Ideal in sich die Kraft aller Kräfte ist, wenn es auch
nie ganz Wirklichkeit wird.

Darauf allein kommt es an, den Vielen, den Schwankenden, Lauen
den Willen einzuflößen, zu „suggerieren" meinethalben. Versucht's mit
Lügen, bodenlosen: Frankreich und England taten's, und es ging, bis
zum Tage der Ernüchterung. Versucht's mit Träumen: die Sozialdemo--
kratie erfand den Gleichheittraum, die Regiererei durch die Masse, das
„aufgeklärte" Proletariat; die Seelen entzündeten sich an einem geglaubten,
weil schmeichelnden Ideal, bas aus den Träumen nur als Zuchthaus und
Sanskulotterie in die Wirklichkeit treten könnte; versucht's mit dem Gött-
lichen: der es wirklich in sich trug, hat auch dies SHwerste vermocht.
Denket der ersten, der reinen Christen! Nnd vergeßt. nicht, daß Buddha
und Mohammed noch heute wesentlicher das ganze Leben von Millionen

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