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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1919)
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Schumann, Wolfgang: Im Kreuzfeuer
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0209

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Der Wissenschaft der letzten Iahrzehnte war eigentümlich eine ins änßerste
getriebene Arbeitteilung ohne entsprechende — nicht Synthese, sondern —
Integrierung, will sagen: Gemeinschaftarbeit, Zusammenfügung der Lrgeb-
nisse, Nutzbar-- oder auch nur Greifbarmachung deraus mehreren Qnellen
zusammenfließenden Lrkenntnisse höherer Ordnung. Sie arbeitete nach Art
dsr Kleinbauern, aber die Großlandwirte und die Großhändler mit den
Produkten der Wissenschaft fehlten. Ls war und es ist nicht gesorgt für die
Heranbildung enzyklopädischer Köpfe, die in einer mittleren Breite und Fülle
des Wissens immer noch möglich wären. Die meisten erträglichen enzyklopä--
dischen Werke dieser Zeit haben so und so viele Verfasser, die nicht etwa zu--
sammen, sondern unter der Leitung eines „Herausgebers" jeder für sich arbeiten.

Die wenigen Enzyklopädien, enzyklopädischen oder halbenzyklopädischen
Werke, die von einzelnen gewagt wurden, gerieten meist in das Vernichtungs--
feuer der Spezialisten oder in noch schwierigere Lage. Die Volksbildung hat
sich um sie nicht gekümmert. Sie hat ja als eigner Bau nie bestanden.
Sie war eine Veranstaltung fünften Ranges und wurde von Zöglingen
und Trägern der Wissenschaft schlecht und recht bedient. Man hat früher
gar nicht begriffen, daß das, was der Wissenschaft wenigstens in einer
Hinsicht taugen mag: erbitterte Kritik bis zum äußersten, leidenschaftliches
Streben, durch ständige Position und Kontraposition, ständiges Für und
Wider, durch ständiges Aufrichten und Vernichten allmählich vereinzelte,
aber um so wichtigere Äbereinstimmungen herauszuarbeiten, man hatte nicht
begriffen, daß dies für die Volksbildung der Verderb war. Man hatte eben--
sowenig begriffen, daß die Arbeitteilung, die der Wissenschaft zum Teil zu--
gute kam, die Volksbildung zersetzte, indem sie bei dem herrschenden Betrieb
dazu führte, daß auch die „Laienschaft" immer nur BruchteUe von Bruchteilen
zu sehen bekam. Zur Volksbildung in diesem Sinn gehören nun aber große
Teile des höheren Schulbetriebs, nahezu die gesamte „freie" Volksbildung,
fast alle populärwissenschaftliche Literatur, die Zeitungen und das Vereins--
vortragwesen. Die Folge erleben wir: Im Kreuzseuer einer nnr für wissen--
schaftliche Zwecke einigermaßen brauchbaren Dialektik, die längst die ruhige
Objektivität, das maßvolle Anerkennen schlichter Leistung verloren hat, lebt
der Nicht-Fachmann ein sonderbares und geistig wurzelloses Dasein. Ist
er allenfalls befähigt, die Meinung A zu begreifen, so wird es ihm noch
viel leichter gemacht, die kritischen Gegenmeinungen B, C, D und E zu
begreifen, denn er findet sie in seiner Zeitung, in seinem übersichtlichen
j Mark-Handbüchlein, im nächstbesten Vortrag, im Volkshochschulkurs usw.
Vielleicht werden diese Gegenmeinungen beredsamer, und das heißt in diesem
Fall: überzeugender, vorgetragen als die mühsam erarbeitete Meinun^ A»
und so bleibt A eine ins Leere hinausgeworfene Stilübung. Äußerst rasch
führt dies alles dahin, daß der „Laie" in seiner Verzweiflung blindlings
und endgültig an eine Autorität seine Selbständigkeit vergibt oder — was
für das Selbstbewußtsein schmeichelhafter und viel häufiger ist — daß er
alle Autorität leugnet und schließlich von gar keinem „Werk", von gar
keiner Ansicht mehr ruhig, prüfend, eindringlich Kenntnis nimmt, sondern
sich damit begnügt, die Gegenargumente flüchtig kennen zu lernen, sich eine
Sammlung von kritischen Schlagwörtern änzulegen, die ihm erlaubt, all
und jedes Geschaffeue von vornherein als unzulänglich abzulehneu. Kein
Typus ist heute verbreiteter als derjenige, der geistig von Kritiken und nur
von Kritiken lebt und über alles die Meinung der jeweiligen Gegner hat.
„Simmel? Na, sehen Sie mal bei Wundt nach, wie der über ihn denktl
 
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