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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

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Nr. 2
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Maier, Friedrich: Zukunft nicht ohne die Antike: Perspektiven des altsprachlichen Unterrichts : zur Eröffnung des DAV-Kongresses in Bamberg 1994
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https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0048

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Rede, so daß die Sachwalter der Tradition verstört, ja fast schockiert darauf reagierten; auf be-
schäftigungspolitischer und ökonomischer Ebene erwies sich die vorgeführte Analyse ja als kaum
widerlegbar.
Der Gedanke an „Vernichtung" mußte - nach Kolakowskis Formel - aufkommen. Gibt sich denn
eine Gesellschaft, die das Versorgtsein mit dem täglichen Brot, so notwendig das ist, zum einzigen
Maß ihrer Zukunftsplanung nimmt, nicht - zumal in Europa - der Katastrophe preis, da sie nicht
wegzudenkende Voraussetzungen für Leben, Glück und Zufriedenheit ihrer Angehörigen vernach-
lässigt?
Konrad Seitz' Prognose reizte zum Widerspruch, und der ließ sich auch ohne Schwierigkeit formu-
lieren. Auf derselben Tagung in Nürnberg deutete ein Kulturpolitiker von Rang, der heutige Präsi-
dent der Kultusminister-Konferenz, Bayerns Bildungs- und Wissenschaftsminister Hans Zehetmair
eine andere Perspektive auf das zukünftige Europa an. Auf diesem Kontinent könne nur, wenn er
als eine Kultur- und Wertegemeinschaft verstanden wird, das Gefühl der Zusammengehörigkeit
und Sicherheit aufkommen. Zwei prognostische Auffassungen prallten aufeinander: Europa als
fortschrittsorientierter, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger Teil der Welt und Europa als ein
durch gemeinsame Traditionen und Sitten zusammenwachsender Erdteil. Zwei Auffassungen, un-
verbunden damals, aber keineswegs unvereinbar. Die Synthese bot sich zwanghaft an. Im Grunde
ist dies wohl die drängendste politische, im engeren Sinne bildungspolitische Aufgabe unserer Zeit,
die ihrem großen Wendepunkt zueilt: der Kompromiß, die Balance zwischen Tradition und Fort-
schritt. Viele kompetente und berufene Persönlichkeiten haben uns überzeugend erklärt, daß die
Menschheit die Entdeckung des jeweils Neuen, die technisch-wissenschaftliche Weiterentwicklung
zum Überleben braucht, wie sind aber auch in Tausenden von Buchseiten der zeitanalytischen und
zukunftsprognostischen Literatur davon belehrt worden, daß die Zukunft im Fortschritt gefährdet
ist, wenn dieser nicht an ein neues Wertkonzept gebunden wird; so fordert es mit Nachdruck Hans
Jonas, der wohl anerkannteste Vertreter dieser Richtung: „Seit der industriellen Revolution hat sich
die Natur unseres Handelns verändert; da Verantwortung aber ein Korrelat der Macht ist, einer
Macht, die wissend ist und dem freien Willen untersteht, ist das Prinzip der Verantwortung erst-
mals in den Vordergrund getreten und hat sogar Vorrang vor vielen Wünschen, Begierden und
Verwöhnungen der Gegenwart einschließlich des Vermehrungsbedürfnisses." Jonas hat Verantwor-
tung als gesellschaftspolitisches Phänomen gekennzeichnet, das Gegenwart und Zukunft miteinan-
der verbindet. Das verantwortliche Mitbedenken der Zukunft ist kein bloß intellektuelles Spiel
mehr, sondern notwendige Bedingung der Menschen.
Wer aufmerksam den Dialog der Zeit verfolgt, erkennt, daß dieser Appell des Philosophen längst
sein Echo beim Naturwissenschaftler erhalten hat. Von dort signalisiert man - zumal im Bereich der
Biomedizin, etwa in der Transplantationstechnologie und Gen-Forschung - den Wunsch, daß ange-
sichts der umfassenden Vertrauenskrise der Wissenschaft und der erwarteten Humanität hinter der
wissenschaftlichen Forschung von seiten der Ethiker und Theologen Rahmenbedingungen gegeben
werden, die dem Wissenschaftler oft schwierige Entscheidungen im eigenen Gewissen erträglich
und vor der Gesellschaft juristisch unanfechtbar machen. Man hat sich längst auf eine Begrenzung
des wissenschaftlich Machbaren durch ethische Prinzipien eingestellt, die sich - von überkommenen
Wertvorstellungen hergeleitet - allmählich konsensuell in unserer Gesellschaft verfestigen. Verant-
wortlichkeit und Verantwortbarkeit sind dabei, sich zu Kategorien im Wertbewußtsein der Men-
schen zu entwickeln, ohne die die Zukunft nicht zu bewältigen ist.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß in unserer Gesellschaft jener Institution, die die Jugend durch
Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Werthaltungen zukunftstauglich machen soll, nämlich
der Schule, die alles überragende Verpflichtung zufällt, in den nachwachsenden Generationen die

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