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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

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Nr. 3
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Buchbesprechungen
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Schulz, Hartmut: [Rezension von: Jean-Christoph Rufin, Das Reich und die neuen Barbaren]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0118

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-/ean-C/ir/sfoph Buhn.' Das Be/'ch und d/e neuen Barbaren. Aus dem französ/schen von Uoach/m
Me/nert. Bed/'n; S/er/ag t/o/Ar und WeB, 799B. 277 5., BB DM.
Trotz der deutlichen historischen Anspielungen im Titel mag die Besprechung eines Buches über
den Nord-Süd-Konflikt in einem Fachblatt für Altphilologen zunächst ungewöhnlich erscheinen.
Der Autor ist Arzt und Politikwissenschaftler, der für die französische Hilfsorganisation „Ärzte ohne
Grenzen" in Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Südostasiens arbeitete. Diese Erfahrungen spie-
geln sich in seinem Buch. Es ist ein, wie mir scheint, bemerkenswerter Versuch, die weltpolitische
Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einerseits mit fachlicher Kompetenz, ande-
rerseits aber auch - wie schon der Titel verrät - mit Hilfe aus der Antike tradierter Denk- und
Sprachmuster zu deuten. „Die lateinische Tradition liefert die intellektuellen Werkzeuge, die den
gegenwärtigen Wandel der Denkweisen zu fassen vermögen. Die ideologische Umwälzung, die
Rom nach der Niederlage Karthagos erlebt hat, ist jener vergleichbar, die heute an die Stelle der
Ost-West-Konfrontation einen Gegensatz zwischen Norden und Süden treten läßt." (18) Eine ähnli-
che Beklemmung wie Scipio, der nach dem Fall Karthagos dasselbe Schicksal für Rom befürchtete,
kennzeichnet die Situation nach dem Fall der Berliner Mauer: „Eine Zivilisation kann das Vakuum
um sie herum nicht lange schauen, ohne vom Gedanken des eigenen Todes erfaßt zu werden."
(19). Um das Gefühl der Sicherheit wiederherzustellen, bedarf es einer neuen Konstruktion der
weltpolitischen Landkarte, einer neuen Perspektive der Geschichte. Für Rom übernahm diese Auf-
gabe Polybius: Er „erfindet" das römische Reich, er gibt der Geschichte Roms von Anfang an einen
Sinn in der Mission für Frieden und Gerechtigkeit, er konstituiert als erster das Bild der Barbaren,
die dem Reich als Masse gegenübertreten, und deren extreme Unterschiedlichkeiten später - wie
beim Geographen Pomponius Mela - bis zum Gegensatz von Mensch und Tier zugespitzt werden
können. Es ist eine Ideologie der Ungleichheit, der Asymmetrie, wie sie auch heute wieder an die
Stelle des Gegensatzes gleichwertiger Mächte tritt: „Kein Zweifel, daß zur Bannung der vom so-
wjetischen Rückzug hervorgerufenen Angstgefühle dem Süden nunmehr die Rolle der neuen Barba-
ren zufällt, welche einem Norden gegenüberstehen, der als wiedervereinigt, als imperial, als Wah-
rer der universellen Werte der freiheitlichen und demokratischen Zivilisation vorausgesetzt wird."
(21) Dazwischen liegt der „Limes", eine besondere Form der Grenze, der zunächst der Zivilisation
des Reiches ihre Entfaltung ermöglicht, doch zugleich, durch die durch ihn verschärfte Ungleich-
heit, die wechselseitige Anziehung der Welten fördert, die er trennen sollte.
Nach diesem einleitenden Szenarium entfaltet Rufin die sich zum „Bruch zwischen Nord und Süd"
steigernde gegensätzliche Entwicklung der beiden Welthälften. Da ist zunächst eine vordem nicht
für möglich gehaltene Rückentwicklung: Galt die Welt bisher seit der Mitte unseres Jahrhunderts
als allgemein bekannt und weitestgehend zugänglich, ist in den letzten Jahren eine immer größer
werdende Zahl von „terrae /ncogn/fae" festzustellen, von abgeschotteten Staaten, Aufstandsgebie-
ten und unzugänglichen Bereichen der Mammutstädte: „Der Gegensatz zwischen dem Norden und
den neuen Barbaren gründet auf diesem ersten Gegensatzpaar: auf der einen Seite eine offene,
durchlässige Welt; auf der anderen Verschlossenheit und Undurchsichtigkeit" (54). Dazu kommen
weitere Gegensätze: Der demographischen Antithese „zahlreich/weniger zahlreich" verbindet sich
aus dem Blick des „stabilen" Nordens die beängstigende Wahrnehmung des von Migrationen gan-
zer Völker erschütterten, „entwurzelten" Südens. „Archipele des Elends" entstehen, die „Kultur der
Armut" wird ein universelles Phänomen, sie ist „eine nomadische in dem Sinne, wie die Römer die
Barbaren sahen: Si.e macht die Menschen bereit zum Hereinbranden. Sie hält sie in einem gefährde-
ten Gleichgewicht, bei dem die Gewalt sie jederzeit in Bewegung versetzen kann" (95). Anspielun-
gen auf antike Wahrnehmungsmuster als Interpretamente der Gegenwart werden nun seltener: Die
Analyse der politischen und ideologischen Entwicklung des Südens nach dem Ende der Ost-West-

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