Auch wer in erster Linie an praktischen Unterrichtshilfen interessiert ist, sollte die prinzipiellen Re-
flexionen nicht auslassen wegen mancher beherzigenswerter Gedanken, wie etwa des Aufrufs zum
Experiment (S. 13), ohne das der Unterricht tote Routine wird, der Warnung vor einer oft vorschnel-
len Kategorisierung von Schülerübersetzungen als „richtig" oder „falsch" (S. 13f.) oder der Zitate
von Naturwissenschaftlern über die Bedeutung der Antike für ihr Denken (S. 116).
DIETRICH SlRATENWERTH, Berlin
Bru/'f Za/'c/man, Loufse / 5chm/tf Banfe/, Pau//ne; D/'e Be//g/on der Gr/'echen. /Cu/f und Mythoj. (La
re//g/on grecgue, dfj A d. franz. dberfr. v. Andreas l/l//ffenburg. München; Beck 7954. 256 5.,
43,00 DM (7SB/V 3-406-33746-4).
Bereits der französische Titel dieses Buches konnte zu Mißverständnissen Anlaß geben: nicht ein
Handbuch oder ein Gesamtüberblick über die griechische Religion darf man erwarten, sondern eine
(durchaus eigenständige, ja stellenweise eigenwillige) Darstellung der Religion der klassischen grie-
chischen Polis. Das verdeutlichte wenigstens noch der französische Untertitel; der deutsche dage-
gen verkürzt sogar das, was tatsächlich geboten wird.
Dabei ist das Buch, erwachsen aus der Pariser Schule von Marcel Detienne, eine reizvolle, ja strek-
kenweise faszinierende Lektüre: Das Opfer ist für die Autorinnen Mittelpunkt des Ritus. Es habe
zum Ziel, „einerseits die Bindungen zum Ausdruck zu bringen, die die Bürger untereinander zu-
sammenschweißen, und zum anderen die Beziehungen mit der Welt der Götter, deren Zustimmung
das Leben der Gemeinschaft auf der goldenen Mitte zwischen Tieren und Göttern rechtfertigt und
garantiert" (S. 30). Das Religiöse sei in der Polis auf allen Ebenen und zu jedem Zeitpunkt des
menschlichen Handelns gegenwärtig gewesen. So habe es, insbesondere in der Form des Ritus und
dort wieder in der Form des blutigen Opfers mit anschließender Speisung eine wesentliche Rolle für
die Definition der Polis geleistet (und sei daher, ebenso wie das Politische, ihrer strengsten Kontrol-
le unterworfen gewesen). Es habe auch, besonders deutlich in den Riten für Begräbnis und Tod, die
Angelegenheiten von Familie und Polis miteinander verklammert. Nicht einmal Mysterienkulte wie
derjenige von Eleusis seien eine „alternative Religion" gewesen, auch viele Nichteingeweihte hätten
ja dem Fest der Großen Mysterien und vor allem der Prozession zwischen Eleusis und Athen beige-
wohnt (S. 139f.) Anders die Orphiker und Teile der Pythagoreer: sie hätten die Regeln der Polis ab-
gelehnt und ihre Zurückweisung des blutigen Opfers dazu benutzt, ihren Protest gegen sie auszu-
drücken (S. 39. 157). Auch der orgiastische Kult des Dionysos, bei dem das Wild in der freien Natur
bei lebendigem Leibe zerrissen und roh gegessen wurde, bedeute, daß die Kultanhänger die Art,
wie das Opfer in der Polis dargebracht wurde, zurückgewiesen hätten (S. 178). Dagegen habe es
sich bei diesen Kultgemeinschaften nicht um Heilsreligionen oder gar um eine Art Frühform des
Christentums gehandelt.
In den einzelnen Göttern versuchen die Autorinnen jeweils einheitliche Grundvorstellungen zu er-
kennen So sei es Apollons Aufgabe gewesen, die Welt der Menschen und der Götter in sich selbst
und miteinander in Harmonie zu bringen, u. a. mit der Macht des Wortes. Dagegen sei es Dionysos'
Eigenart gewesen, einem jeden das Fremde zu offenbaren, das er in sich trägt und das zu entdek-
ken ihn die Kulte des Gottes durch Maske und Trance lehren. Sehr einleuchtend erscheint es mir,
daß kaum eine Gottheit für die Geburt als solche zuständig gewesen sei, sie vielmehr ihren je eige-
nen Beitrag hierzu geleistet hätten, den sie bei anderer Gelegenheit ebenfalls darbrachten. So ist
dem Verlag zu danken, daß er dieses Buch nun auch dem deutschen Leser leichter zugänglich ge-
macht hat. Auch im einzelnen stößt der Leser immer wieder auf Perlen der Formulierung. So habe
ich kaum jemals so gut beschrieben gelesen, was die archaischen Kuroi bedeuteten (bitte lesen Sie
das selbst auf S. 216 nach). Bei einer zweiten Auflage, die dem Buch zu wünschen ist, könnte die
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flexionen nicht auslassen wegen mancher beherzigenswerter Gedanken, wie etwa des Aufrufs zum
Experiment (S. 13), ohne das der Unterricht tote Routine wird, der Warnung vor einer oft vorschnel-
len Kategorisierung von Schülerübersetzungen als „richtig" oder „falsch" (S. 13f.) oder der Zitate
von Naturwissenschaftlern über die Bedeutung der Antike für ihr Denken (S. 116).
DIETRICH SlRATENWERTH, Berlin
Bru/'f Za/'c/man, Loufse / 5chm/tf Banfe/, Pau//ne; D/'e Be//g/on der Gr/'echen. /Cu/f und Mythoj. (La
re//g/on grecgue, dfj A d. franz. dberfr. v. Andreas l/l//ffenburg. München; Beck 7954. 256 5.,
43,00 DM (7SB/V 3-406-33746-4).
Bereits der französische Titel dieses Buches konnte zu Mißverständnissen Anlaß geben: nicht ein
Handbuch oder ein Gesamtüberblick über die griechische Religion darf man erwarten, sondern eine
(durchaus eigenständige, ja stellenweise eigenwillige) Darstellung der Religion der klassischen grie-
chischen Polis. Das verdeutlichte wenigstens noch der französische Untertitel; der deutsche dage-
gen verkürzt sogar das, was tatsächlich geboten wird.
Dabei ist das Buch, erwachsen aus der Pariser Schule von Marcel Detienne, eine reizvolle, ja strek-
kenweise faszinierende Lektüre: Das Opfer ist für die Autorinnen Mittelpunkt des Ritus. Es habe
zum Ziel, „einerseits die Bindungen zum Ausdruck zu bringen, die die Bürger untereinander zu-
sammenschweißen, und zum anderen die Beziehungen mit der Welt der Götter, deren Zustimmung
das Leben der Gemeinschaft auf der goldenen Mitte zwischen Tieren und Göttern rechtfertigt und
garantiert" (S. 30). Das Religiöse sei in der Polis auf allen Ebenen und zu jedem Zeitpunkt des
menschlichen Handelns gegenwärtig gewesen. So habe es, insbesondere in der Form des Ritus und
dort wieder in der Form des blutigen Opfers mit anschließender Speisung eine wesentliche Rolle für
die Definition der Polis geleistet (und sei daher, ebenso wie das Politische, ihrer strengsten Kontrol-
le unterworfen gewesen). Es habe auch, besonders deutlich in den Riten für Begräbnis und Tod, die
Angelegenheiten von Familie und Polis miteinander verklammert. Nicht einmal Mysterienkulte wie
derjenige von Eleusis seien eine „alternative Religion" gewesen, auch viele Nichteingeweihte hätten
ja dem Fest der Großen Mysterien und vor allem der Prozession zwischen Eleusis und Athen beige-
wohnt (S. 139f.) Anders die Orphiker und Teile der Pythagoreer: sie hätten die Regeln der Polis ab-
gelehnt und ihre Zurückweisung des blutigen Opfers dazu benutzt, ihren Protest gegen sie auszu-
drücken (S. 39. 157). Auch der orgiastische Kult des Dionysos, bei dem das Wild in der freien Natur
bei lebendigem Leibe zerrissen und roh gegessen wurde, bedeute, daß die Kultanhänger die Art,
wie das Opfer in der Polis dargebracht wurde, zurückgewiesen hätten (S. 178). Dagegen habe es
sich bei diesen Kultgemeinschaften nicht um Heilsreligionen oder gar um eine Art Frühform des
Christentums gehandelt.
In den einzelnen Göttern versuchen die Autorinnen jeweils einheitliche Grundvorstellungen zu er-
kennen So sei es Apollons Aufgabe gewesen, die Welt der Menschen und der Götter in sich selbst
und miteinander in Harmonie zu bringen, u. a. mit der Macht des Wortes. Dagegen sei es Dionysos'
Eigenart gewesen, einem jeden das Fremde zu offenbaren, das er in sich trägt und das zu entdek-
ken ihn die Kulte des Gottes durch Maske und Trance lehren. Sehr einleuchtend erscheint es mir,
daß kaum eine Gottheit für die Geburt als solche zuständig gewesen sei, sie vielmehr ihren je eige-
nen Beitrag hierzu geleistet hätten, den sie bei anderer Gelegenheit ebenfalls darbrachten. So ist
dem Verlag zu danken, daß er dieses Buch nun auch dem deutschen Leser leichter zugänglich ge-
macht hat. Auch im einzelnen stößt der Leser immer wieder auf Perlen der Formulierung. So habe
ich kaum jemals so gut beschrieben gelesen, was die archaischen Kuroi bedeuteten (bitte lesen Sie
das selbst auf S. 216 nach). Bei einer zweiten Auflage, die dem Buch zu wünschen ist, könnte die
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