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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

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Nr. 2
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Lohmann, Dieter: "Boios petentibus Haeduis ... concessit.": zur Übersetzung von Caes. b.G. I 28,5 und zur Übersetzungsmethode
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https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0071

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Denn daß trotz aller Faktoren, die übereinstimmend für die hier vorgeschlagene Übersetzung spre-
chen - Kontext, Text- und Satzstruktur, sowie der statistisch normale Wortgebrauch - bisher weder
in Übersetzungen noch in den wissenschaftlichen Kommentaren oder den Erläuterungen der Schul-
texte nicht ein einziges Mal - soweit ich das überblicke - diese Möglichkeit auch nur erwogen wur-
de, kann ja nur auf einem fest fixierten Leseverhalten beruhen, dessen sich die Kenner und Liebha-
ber des Latein offenbar nur wenig bewußt sind. Dieses Leseverhalten beruht auf einer Reihe von
methodisch begründeten Prämissen und festen Grundansichten, die allein bei der Aufnahme der
„toten Sprachen" Latein und Griechisch zu gelten scheinen Beim Umgang mit modernen Fremd-
sprachen wäre all dies nicht vorstellbar
Es sei daher erlaubt, zum Schluß kritisch auf diese Prämissen und fest eingewurzelten Überzeugun-
gen, die mir aus vielen Diskussionen mit Fachkollegen vertraut sind, vor dem Hintergrund unseres
Beispiels kurz einzugehen:
1 Prämisse: „Afonsfru/eren", „Texterscb/Zeßung", „ArbefTsübersefzungen" durch vorhergehen-
des „Dekod/eren", „Ana/ysen", „ Wortfe/d- oder Konnekforensamm/ungen" u. dg/. - a// d/es bedeu-
tet gar n/cht, daß d/e Verstebensfo/ge geändert w/rd, denn der or/g/na/e Text b/e/bt ja /n se/ner
r/cht/gen Abto/ge vor Augen und /st jederze/f abrufbar.
Wer das glaubt, unterschätzt die Dynamik der Verstehensprozesse Man muß sich
den Vorgang des Verstehens wie eine Kette von aufeinanderfolgenden Weichenstellungen denken
Jedes Einzelelement enthält wegen der in ihm liegenden formalen, grammatischen oder semanti-
schen Multivaienz beträchtliche Verzweigungsmöglichkeiten, die in ihrer Summe das Schienen-
Diagramm großer Rangierbahnhöfe leicht in den Schatten stellen Die ständig notwendigen suk-
zessiven Entscheidungsprozesse werden durch die Dynamik des Verste-hensablaufs gesteuert - vor-
ausgesetzt, man beginnt am Anfang und hält möglichst die Reihenfolge ein Setzt man an einer
anderen Stelle ein, wie es beim „Erschließen" ja zwangsläufig der Fall ist, kann bei ungünstigen
Konstellationen eine nahezu irreversible Weichenstellung in die falsche Richtung getroffen werden.
Das Verb concess/t mit seinen semantischen Nuancen und seinen unterschiedlichen syntaktischen
Füllungsmöglichkeiten ist ein schlagender Beweis: Es genügt ein falsch gedeuteter uf-Satz in un-
mittelbarer Nähe, um die Weichenstellung unumkehrbar zu machen.
Die von alten Methodikern oft ausgesprochene Warnung vor dem Versuch, lateinische Texte o h -
ne Vorbereitungsphase spontan verstehen und übersetzen zu wollen - oft
beruft man sich dabei auf ein bekanntes d/ctum von Jules Marouzeau, vgl E Hermes, AU 6/88,
55ff., Anm. 2 und 7 - dokumentiert eine fatale Fehlentwicklung in der Methodik der alten Spra-
chen. Natürlich ist richtig, daß Schüler oft unüberlegt „drauflos übersetzen" (Marouzeau: ,,/-/äfe ä
tradu/re, cfaborc/"), und natürlich muß man sie vor dieser Unüberlegtheit warnen. Aber die Konse-
quenz kann nicht darin bestehen, die natürliche Verstehenserwartung und Verstehensdynamik
durch „Konstruieren" oder „Dekodieren" in ihrem Ablauf umzudrehen und damit zu blockieren,
sondern die logische Folgerung kann nur sein, diesen Prozeß durch entsprechendes Training einzu-
üben, sich die Kohärenz der Textkonstituenten in ihrem dynamischen Ablauf bewußt zu ma-
chen, die determinierende Kraft der aufeinanderfolgenden Satzelemente für das Verstehen auszu-
nutzen und die Schüler dazu anzuhalten, die Verstehenssignale zum richtigen Zeitpunkt - nicht
vorher! - zu beachten. Unser Beispiel: Das erste Wort Bo/os entscheidet über die richtige Weichen-
stellung in dem Satz, nicht das vorher - und damit zu früh - entdeckte Prädikat concess/f (vgl dazu
den folgenden Abschnitt).^
2 P r ä m i s s e : D/e Re/benfo/ge c/er sprac/i//chen E/emente /st für das r/c/if/ge Verstehen /ate/n/-
scher Texte oder .Sätze unerheb/Zch. D/e l/Vortste//ung /st we/tgehend be//eb/g, und ob man e/nen

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