Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

DOI issue:
Nr. 3
DOI article:
Aktuelle Themen
DOI article:
Jöhrens, Otto: Latein, eine schwierige Sprache?
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0109

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
(Personalpronomina) angegeben werden, während sie im Lateinischen als Endungen in einer Verb-
form „versteckt" sein können, so ist klar: Lateinische Text zu verstehen, ist schwieriger als englische
und deutsche.
Bei den Nominalformen wirkt die Vieldeutigkeit vieler Formen erschwerend. So steht z. B. bei den
Maskulina der u-Deklination die Endung -us in vier Fällen, bei der a-Deklination die Endung -ae in
drei Fällen. Solche Vieldeutigkeit gibt es freilich im Deutschen auch. Die Artikel „die" und „der"
sind nicht eindeutig. Aber im Deutschen ist es schon eine Erleichterung, daß es überhaupt einen
Artikel gibt, der darauf hinweist, daß eine Nominalform folgt, und oft bezeichnet der Artikel auch
klar den zugehörigen Kasus. Im Englischen ist durch Präpositionen für die obliquen Kasus, durch
Plural-s und die weitgehend gültige Stellungsregel: Subjekt, Prädikat, Objekt der jeweilige Kasus
klar bestimmt, so daß auch die häufige Verwendung des gleichen Wortes als Substantiv oder Ver-
bum keine Schwierigkeiten macht.
Da es im Lateinischen keine Artikel gibt (für den unbestimmten gibt es gelegentlich Ersatzformen:
agnco/a qu/dam) und auch Personalpronomina im Nominativ fehlen - mit Ausnahme bei besonde-
rer Betonung -, so ist die Verwechslung von Nominal- und Verbalformen durchaus möglich. Die
nachfolgenden Formen z. B. können meinen:

/eg;'

c/uc/'s
ven;'am

1.
2.
3.
1.
2.
1.
2.

dem Gesetz
ich habe gelesen, ich las
gelesen werden
des Führers
du führst
Verzeihung^
ich werde kommen
(oder Konjunktiv Präsens)

to f/ie /aw
/ have reac/, / read
fo be read
of fbe /eader
you /ead
parc/orr
/ sba// come

An diesen wenigen Beispielen, die sich erheblich vermehren ließen, wird deutlich, wie sehr die ge-
sonderte Setzung von Artikeln oder Personalpronomina und Elilfsverben im Englischen und Deut-
schen das Verständnis erleichtert.
Die Fähigkeit zu analysieren ist in unserer komplizierten Welt mit ihren vielen komplexen Phäno-
menen unentbehrlich Zu den bekannten Gründen, die für ein Erlernen des Lateins sprechen,
kommt m E. nach den vorgetragenen Ergebnissen*^ ein weiterer Grund: Schulung des analytischen
Denkens. Freilich ist die Möglichkeit eines Transfers vom Sprachunterricht auf die Fähigkeit zur
Analyse in anderen Lebensbereichen nicht wissenschaftlich einwandfrei nachzuweisen; jedoch ist
seine Wirksamkeit auch nicht als Einbildung ganz abzuwerten.
Wenn man unseren Schülern zeigt, was sie beim Übersetzen eines lateinischen Textes Besonderes
geleistet haben, kann vielleicht ihr Selbstvertrauen gestärkt und hier und da sogar etwas Freude am
Latein geweckt werden.
1 Von Schwierigkeiten bei der Übersetzung in die Sprachen soll hier nicht die Rede sein.
2 Ähnliches gilt für das Phonem/a:/.
3 Die umstrittene deutsche Großschreibung der Substantiva ist für den Schreiber eine Erschwerung, aber
für den viel häufiger auftretenden Leser eine große Erleichterung.
4 Ein Vergleich des Lateins mit modernen romanischen Sprachen würde zu den gleichen Ergebnissen füh-
ren.
OTTO JÖHRENS, Elardenbergstr. 38, 35578 Wetzlar

103
 
Annotationen