*3iag^M«*E
§ 2. Noch seltsamer als das Bemühen unserer Architek-
ten, neue Stile zu erfinden, ist jedoch vielleicht die Art, mit
der sie gewöhnlich von diesem Schatze natürlicher Unend-
lichkeit reden. Wir wollen uns einen Augenblick gedulden
und einen von ihnen anhören, der nicht zu den wenigst
Verständigen gehört: —
„Es ist nicht wahr, dass alle natürlichen Formen schön
sind. Wir vermögen dies kaum in der Natur selbst zu
entdecken; aber wenn die Formen von den Dingen ge-
trennt und allein dargestellt werden (durch Bildhauerei
oder Schnitzwerk), dann sehen wir, dass sie durchaus nicht
für ornamentale Zwecke geeignet sind; und dass in der That
sehr wenige, vielleicht gar keine, ohne Verbesserung anzu-
wenden sind. Ja, ich sage Verbesserung, denn, wenn es
auch das höchste'Ziel jeder Kunst ist, die Natur nachzu-
ahmen, so kann dies nicht durch bloße Nachahmung irgend
einer natürlichen Form geschehen, sondern indem man sie
kritisiert und verbessert, — an der Hand der Gesetze
kritisiert, die aus allen Werken der Natur gefolgert, aber
von ihr nie vollständig an einem einzelnen Werke durch-
geführt werden; und sie verbessert, indem man sie natür-
licher macht, d. h. übereinstimmender mit der allgemeinen
Richtung der Natur, dem von Rafael erwähnten edlen Grund-
satze entsprechend, „dass der Künstler bestrebt sein müsse,
die Dinge zu machen, nicht wie die Natur sie macht, son-
dern wie sie sie machen möchte"; wie sie sie immer zu
machen versucht, ohne dass es ihr je gelingt, obgleich ihr
Ziel durch einen Vergleich ihrer Bemühungen festgestellt
werden könnte; gerade, als ob eine Zahl von Bogenschützen
erfolglos nach einem Ziel an einer Wand geschossen hätte,
und dieses Ziel wäre nun entfernt worden, dann könnten
wir durch eine Prüfung ihrer Fehlschüsse die wahrschein-
liche Stellung des Zielpunktes feststellen und würden ihm
sicherlich näher kommen, als irgend einer ihrer Schüsse" *.
§ 3. Ich hatte gedacht, wir wären zur Zeit schon fertig
mit diesem abgebrauchten, einseitigen und misverstande-
nen Ausspruch Rafaels; oder die Menschen hätten in diesen
* Garbett über Zeichnung, S. 74.
§ 2. Noch seltsamer als das Bemühen unserer Architek-
ten, neue Stile zu erfinden, ist jedoch vielleicht die Art, mit
der sie gewöhnlich von diesem Schatze natürlicher Unend-
lichkeit reden. Wir wollen uns einen Augenblick gedulden
und einen von ihnen anhören, der nicht zu den wenigst
Verständigen gehört: —
„Es ist nicht wahr, dass alle natürlichen Formen schön
sind. Wir vermögen dies kaum in der Natur selbst zu
entdecken; aber wenn die Formen von den Dingen ge-
trennt und allein dargestellt werden (durch Bildhauerei
oder Schnitzwerk), dann sehen wir, dass sie durchaus nicht
für ornamentale Zwecke geeignet sind; und dass in der That
sehr wenige, vielleicht gar keine, ohne Verbesserung anzu-
wenden sind. Ja, ich sage Verbesserung, denn, wenn es
auch das höchste'Ziel jeder Kunst ist, die Natur nachzu-
ahmen, so kann dies nicht durch bloße Nachahmung irgend
einer natürlichen Form geschehen, sondern indem man sie
kritisiert und verbessert, — an der Hand der Gesetze
kritisiert, die aus allen Werken der Natur gefolgert, aber
von ihr nie vollständig an einem einzelnen Werke durch-
geführt werden; und sie verbessert, indem man sie natür-
licher macht, d. h. übereinstimmender mit der allgemeinen
Richtung der Natur, dem von Rafael erwähnten edlen Grund-
satze entsprechend, „dass der Künstler bestrebt sein müsse,
die Dinge zu machen, nicht wie die Natur sie macht, son-
dern wie sie sie machen möchte"; wie sie sie immer zu
machen versucht, ohne dass es ihr je gelingt, obgleich ihr
Ziel durch einen Vergleich ihrer Bemühungen festgestellt
werden könnte; gerade, als ob eine Zahl von Bogenschützen
erfolglos nach einem Ziel an einer Wand geschossen hätte,
und dieses Ziel wäre nun entfernt worden, dann könnten
wir durch eine Prüfung ihrer Fehlschüsse die wahrschein-
liche Stellung des Zielpunktes feststellen und würden ihm
sicherlich näher kommen, als irgend einer ihrer Schüsse" *.
§ 3. Ich hatte gedacht, wir wären zur Zeit schon fertig
mit diesem abgebrauchten, einseitigen und misverstande-
nen Ausspruch Rafaels; oder die Menschen hätten in diesen
* Garbett über Zeichnung, S. 74.