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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Kainz, Friedrich: Vorarbeiten zu einer Philosophie des Stils
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0053
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VORARBEITEN ZU EINER PHILOSOPHIE DES STILS.

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kann in echt plastischem Geist geschaffen sein, dem Charakter seines
Materials (z. B. Marmor) in anschaulich einleuchtender Weise Rech-
nung tragen und trotzdem nicht in höchstem Wertsinn stilvoll und
befriedigend sein, wenn andere Mängel (Mängel höherer Art) vor-
handen sind. Umgekehrt sind die prunkvollen Rokokomessen Haydns
und Mozarts gewiß nicht in eigentlichem Sinn zweckstilgerecht: die
durchgehende Heiterkeit mancher dieser Werke, ihre Koloraturaus-
schmückung und anderes bewirkt, daß sie für uns zu etwas anderem
werden, als wir uns unter Kirchenmusik vorzustellen gewohnt sind —
und doch: sie wirken im ganzen stilvoll, durchaus positiv, werthaft
und befriedigend. Was im einzelnen Fall eben geboten wird, ist ein
Kunstwerk hohen Ranges. — Die Tatsache der aus der Erfüllung eines
konkreten Modifikationselements folgenden Wertlegitimation bedeutet
eben nur, daß ein gewisses positives Moment vorhanden ist, das dem
Werk einen bestimmten Wert verleiht. Dieser Wert braucht nicht
sonderlich hoch zu sein; er muß noch keineswegs hinreichen, um die
ästhetische Gesamtqualität positiv und befriedigend zu gestalten.

Wenn es gegolten hatte, ein höfisches Festspiel oder ein dichte-
risches Verherrlichungsprodukt irgend eines feierlichen Anlasses zu
schaffen, haben sich reimgewandte Pseudodichter oft viel besser aus
der Affäre gezogen als echte Poeten. Was jene schufen, war in den
meisten Fällen zweckstilgerecht, ohne Stil im allgemeinen Wertsinn
zu haben. Man denke an die Tätigkeit der »Inventionssekretäre« und
Hofdichter im 17. Jahrhundert, gegenüber Gerhart Hauptmanns »Fest-
spiel in deutschen Reimen-. — Es muß eben bemerkt werden, daß
die aus der Tatsache der erfüllten Modifikationselemente (Wertlegiti-
mation) fließenden Wertelemente verhältnismäßig schwacher Art sind,
wie denn überhaupt die Modifikationselemente im schöpferischen Kom-
plex nichts Primäres, sondern nur Umgestaltendes, eben nur Modifi-
zierendes sind. Immerhin mag es als Regel gelten, daß das Kunstwerk
diesen Postulaten nicht zuwiderhandeln soll, wenn es nicht besondere
Äquivalente zu bieten hat. So gehört es zum Wesen des zweckstil-
gerechten Werks, daß das zwecklich bestimmte Produkt in allen Teilen
durch den Zweck organisiert und einheitlich bestimmt erscheint, ferner
der im Beschauer angeregten Zweckvorstellung gerecht wird, ohne
eine Diskrepanz zwischen Zweckvorstellung und künstlerischer Leistung
fühlbar werden zu lassen. Das führt uns auf folgende wichtige Über-
legung. Die Tatsache der Zweckvorstellung ist ein psychischer Kom-
plex, der im Beschauer unabhängig von der konkreten künstlerischen
Leistung vorhanden ist.

Das Erfahrungswissen bewirkt, daß wir von den meisten Dingen,
die uns in Leben und Kunst entgegentreten können, bereits gewisse
 
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