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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Luther, Friedrich: Die ästhetischen Kategorien
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0075
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BEMERKUNGEN.

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Gleichzeitig stehen wir dem ästhetischen Objekt als einem gleich uns krafterfüllten
Wesen gegenüber und legen ihm je nach seiner Struktur ein relativ zu uns größeres
oder kleineres Kraftmaß bei. Erscheint der schöne Gegenstand vermöge seiner Pro-
portionen oder Rhythmen, seiner Intensität und seines Lebenstempos krafterfüllter,
geklärter, stärker als wir, erweitern wir uns in der Einfühlung, so nennen wir ihn
großartig, vornehm, erhaben und empfinden die Spannung als einen ernsten Vor-
gang. Erscheint der ästhetische Gegenstand schwächer als wir, so nennen wir ihn
lieblich oder niedlich und die Spannung wirkt belustigend. Eine Indifferenzzone
bezeichnet die Realistik.

Beide Erlebnisbestandteile, Schönheit und Spannung, bilden ein lebendiges
Ganzes zweier paralleler Reihen. Auf dieser Parallelität der Erlebnisse mit den ver-
wandten Richtungspolen der erhabenen Schönheit und ernsten Spannung beziehent-
lich lieblichen Schönheit und lustigen Spannung beruhen die speziellen Wirkungen
der einzelnen ästhetischen Erscheinungen. Hierauf ruhen auch die Begriffe des
Tragischen und des Komischen, die sich indessen nicht auf die unmittelbare Wir-
kung des ästhetischen Objekts, sondern auf dessen Inhalt beziehen, mit dem Nach-
druck auf der Spannung. Tragik wie Komik bedeuten einen Widerspruch ihrer
Träger an ihnen selbst, der zu einer Umbiegung ihrer Werte führt. Aber das Opfer
einer Tragik und seine ästhetische Folie erscheinen relativ groß, wertig, und das
komische Opfer erscheint am Ende relativ klein, nichtig.

Die Kategorien der Schönheit und Spannung umgreifen alle Gattungen der
Kunstwerke. Etwa eine Barockarchitektur stellt sich uns zuerst als ein beharrendes
Schönes dar, dessen übermenschliches Verhältnis der gehaltenen Kräfte in uns den
Eindruck der erhabenen Größe hervorruft, um danach, wenn wir nicht das Ganze
des Baues auf uns wirken lassen, sondern analysierend Teil um Teil mit den Augen
abtasten, die Seinsschönheit der kräftigen Form zurücktreten und aus dem Wider-
spiel der erwachenden Kräfte ein Gefühl der Spannung aufsteigen zu lassen, das
mit der Gespaltenheit der wuchtigen Formen und der Gepreßtheit des aufbegehren-
den Lebens eine Färbung tragischen Ernstes an sich trägt. Wie übrigens die span-
nende Architektur des Barocks und der Gotik entsprechend zu vital-naturalistischen,
figuralen Motiven drängt, während stilstrenge Klassik immer ein Moment der Lang-
weiligkeit behält. Oder ein Lustspiel spannt uns in heiterem Lachen, von Akt zu
Akt, von Witz zu Witz unsere Erwartung erregend, und plötzlich treten wir aus
dem Rahmen der Spannung heraus, überschauen das Ganze und genießen eine
Gesamtstimmung lieblicher Unbedeutendheit. So haben einmal bildende Künstler
versucht, die Seinsmomente des »zerbrochenen Krugs« für sich festzuhalten. Auf
unserer Fähigkeit zur Akzentverschiebung beruht auch das Vermögen der bildenden
Kunst, Komik zu erzeugen. Karikierende Zeichnungen werden nicht nur gegenständ-
lich oder ornamental eingefühlt, sondern ähnlich der Schrift abgelesen. Die doppelten
Bedeutungen der Linien — man denke an die Hosen des Herrn Knoop — werden
als Anregungen zu Assoziationen nebeneinander bewußt.

Die ästhetischen Kategorien sind in ihrer Wirkung wie alles ästhetische Erleben
abhängig und modifizierbar von der individuellen Einstellung, aber nichtsdesto-
weniger sind sie grundsätzlich durch die ästhetische Angelegtheit des Objekts be-
stimmt. Darum erscheint es dem Verfasser als Irrtum der Ästhetik, wenn die durch-
aus subjektive Erscheinung des Humors und der unästhetische Eindruck des Häß-
lichen in die Aufstellung der Kategorien hineingenommen werden. Das Häßliche,
das ungeeinigt Widerspruchsvolle, ist das Negativum des Schönen und liegt an
sich außerhalb des Ästhetischen wie außerhalb des Künstlerischen, aber die Häß-
lichkeit eines Einzelobjekts kann in ein ästhetisches Gesamterleben eingeschmolzen

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XX. 5
 
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