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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Lamm, Martin: Strindberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0152
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MARTIN LAMM.

er nur aus Spiegelungen bestehe, aus einem Komplex bisweilen unter-
drückter, bisweilen losgelassener Triebe und Begierden. Als einzigen
festen Grundzug seines Seelenkomplexes bezeichnet er den Zweifel
und die »Empfindlichkeit gegen Druck«. Die beiden Begriffe sagen
eigentlich dasselbe. Strindbergs Zweifel ist nichts anderes als Empfind-
lichkeit gegen den Druck herrschender Meinungen, die Auflehnung
gegen feststehende Gesetze, die man ihm aufdrängen will. Er reagiert
auf Anschauungen ebenso wie auf Personen, weil er nicht in einer
festen Form erstarren will und kann. Er rüttelt ständig an Ketten,
die doch nur die Begrenzung seines eigenen Wesens sind.« Diese
Äußerung Heidenstams über Strindberg in einer Kampfschrift gegen
ihn hätte Strindberg sicherlich selbst unterschreiben können. Denn er
hielt gerade den Kampf gegen jede Begrenzung seines Wesens gleich-
zeitig für sein Adelsabzeichen und für die Tragik seines Lebens.

Ihren eigentlichen Grund hat diese seelische Beschaffenheit Strind-
bergs in seiner erstaunlichen Nervenempfindlichkeit. Es gibt wohl
kaum ein so schlagendes Beispiel für die Wahrheit des bekannten
Ausspruchs von Kellgren, daß »die Fiber eines Schriftstellers« das
Reizbarste sei, was Gott erschaffen habe. In seiner Vorliebe für phy-
siologische Erklärungen wollte Strindberg diese Eigenart aus dem
Umstände erklären, daß er zu früh geboren sei. »Überempfindlich wie
jedes zu früh geborene Kind, dessen Nerven in der noch blutenden
Haut bloßliegen, geschält wie ein sich häutender Krebs, der unter den
Steinen Schutz sucht und jede Veränderung des Barometers empfindet,«
so hat er sich selbst in der »Beichte eines Toren« (S. Q21)) geschil-
dert. Sich selbst hat er auch gezeichnet in seinem Übermenschentraum,
dem Fischereiinspektor Borg des Romans »Am offenen Meer«: Infolge
seiner Sinnesschärfe hat Borg eine Empfindlichkeit rein physischer
Art gegen Unlustgefühle, die ihm Leiden bereitet, wo andere weniger
empfindliche Individuen Genuß empfunden hätten. »So wurde er für
ganze Stunden verstimmt, wenn sein Morgenkaffee nicht stark genug
war. Eine schlecht bemalte Billardkugel und ein schmutziger Billard-
stock konnten ihn veranlassen, umzukehren und ein anderes Lokal
aufzusuchen. Ein schlecht abgetrocknetes Glas erregte seinen Ekel,
und er nahm den Menschengeruch an einer Zeitung wahr, die ein
anderer gelesen hatte. Er konnte an einem fremden Möbel Menschen-
schweiß auf der Politur sehen, er öffnete immer das Fenster, wenn
eine Magd das Zimmer aufgeräumt hatte« (a. a. O. S. 69 f.). Als Heiden-
stam einige Jahre vorher in einem Brief an Strindberg ihn mit dieser
»nervösen Nörgelei« neckte und solche Beispiele anführte, antwortete

') Dieses Zitat aus Scherings Übersetzung mußte hier verbessert werden.
 
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