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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Hoerner, Margarete: Die Anwendung des Stilbegriffes innerhalb der Kunstwissenschaften
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0333
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BEMERKUNGEN.

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auf den Kulturanteil normativ erscheinenden — objektiven Gehalt der »Kunst an
sich« und der einzelnen Kunstarten, die Kunstgeschichte dagegen den historischen
Prozeß, der zur Bildung und Abfolge einzelner Kunstarten führt.

So gehört also der Stilbegriff zwei verschiedenen Disziplinen mit ihren ver-
schiedenen Methoden an. Es gibt einen ästhetischen und einen historischen Stil-
begriff. Zu dem ästhetischen Stilbegriff gehört alles das, was zum Zustandekommen
einer Kunstart notwendig und was fähig ist, dieselbe zu modifizieren, ohne daß
der historische Ablauf etwas dazu beitragen könnte. Jede Modifikation der Kunst
kann den Begriff Stil für sich in Anspruch nehmen. Die modifizierenden Faktoren
der Kunst aber sind Technik und Material, sowie der Zweck des Kunstwerks. Eine
Kirche wird einen anderen Stil haben wie ein Bahnhof, ein Trauermarsch einen
anderen wie eine Festmusik. Die Blechmusik hat einen eigenen Stil gegenüber der
Holzmusik, der Kupferstich verlangt eine andere Ausdrucksweise wie der Holz-
schnitt. Wir unterscheiden also Materialstile und Zweckstile. Das kreuzweise Zu-
sammentreten verschiedener Materiale und verschiedener Zwecke ergibt besondere
Unterscheidungen, die wir freilich nur selten noch als »Stil« bezeichnen, so die
Trennung von Architektur, Plastik und Malerei, von Oper und Konzert, von Drama
und Epos usw. An sich ließen sich von Materialen (Technik) und Zweck soviel Stile
herleiten, wie es Kombinations- und Variationsmöglichkeiten unter ihnen gibt. Es
gibt einen eigenen Stil des Kunstgewerbes, der durch die zweckliche Unterschei-
dung zur »hohen Kunst« zustande kommt, es gibt einen eigenen Stil des Kinos,
der aus Technik und Zweck geboren ist. Die Pantomime wird einen anderen Stil
haben wie das Drama, das geschlossene Theater andere Wirkungen erzielen wollen
wie die Freilichtbühne.

Von dem ästhetischen Stilbegriff sondert sich streng der historische ab. Er be-
tont nicht das Konstitutive, das Aufbauende, das auch der Modifikation zugrunde
liegt, sondern das Umhüllende, das Hinzukommende. Der historische Stil setzt den
ästhetischen Stil voraus, stülpt sich ihm über. Eine romanische Kirche setzt voraus,
daß der »Kirchenstil« bereits vorhanden, gewahrt ist. Der historische Stil ist zwar
beeinflußbar durch Zweck, Technik und Material, er ergibt sich aber nicht daraus.
Wenn wir sagen, die indische Architektur sei »ein« Holzstil, so ist schon in dem
»ein« gesagt, daß indischer Stil und Holzstil nicht zusammenfallen. Das Indische
kommt zu dem Holzstil hinzu; der Holzstil ist ein konstitutiver, der indische Holz-
stil ist ein historischer, »übergestülpter« Stil.

Die historischen Stile zerfallen wiederum in zwei Gruppen. Frankl') bezeichnet
sie als »figuralen« und »kompositiven« Stil. Ich möchte sie Kultur- und Immanenz-
stil nennen. Die Kulturstile sind an die kausale Abfolge des geschichtlichen Ge-
schehens gebunden, die Immanenzstile unterliegen dem geschichtlichen Gesetz. Das
historische Gesetz ist nicht zu verwechseln mit der ästhetischen Normenbildung, es
ist kein konstitutives, sondern ein übergestülptes Element. Das historische Gesetz,
der Immanenzstil ist zum Zustandekommen nicht notwendig. Man könnte sich gut
vorstellen, daß es nur »malerische« und keine linearen Kunstwerke gäbe, nur einen
»optischen« und keinen »taktischen« Volksstil. Ohne Material, Technik und Zweck
aber ist ein Gebäude oder eine Symphonie schlechthin nicht denkbar.

Der Kulturstil ist die von einer Kultureinheit erzeugte künstlerische Einheit.
Unter Kultur wird hier die durch Rasse, Religion, geographische Lage und poli-
tisches Geschehen entstandene Gemeinsamkeit der Ausdrucksweise verstanden. Es
gibt eine ägyptische, vorderasiatische, ägäische Kultur, eine griechische, römische,

]) Stilgattungen und Stilarten, Zeitschr. f. Ästhetik XIX, S. 102.
 
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