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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 20.1926

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Hoerner, Margarete: Die Anwendung des Stilbegriffes innerhalb der Kunstwissenschaften
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https://doi.org/10.11588/diglit.14166#0334
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324 BEMERKUNGEN.

westeuropäische. Es gibt somit auch einen griechischen, römischen, westeuropäischen
Stil. Als Unterkulturen ergeben sich innerhalb des großen westeuropäischen Kultur-
kreises kleinere Kultureinheiten: Romantik, Gotik, Renaissance, Barock usw. Ihnen
gehören die bisher gebräuchlichsten Stilbegriffe romanisch, gotisch, Renaissance usw.
an. Auch in der Literatur gibt es Kulturstile. Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik,
Romantik gehören hierher, trotzdem die letzteren Bezeichnungen zugleich Immanenz-
stile decken, ebenso wie der Begriff Barock. Die Kulturstile sind Erzeugnisse des
kausalen geschichtlichen Geschehens, die Einheitlichkeit, die natürlich vorhanden
sein muß, geschieht durch Angleichung. Sie ist aber in dem Sinn zufällig, als sie
von äußeren Einflüssen bestimmt ist, sie hat ihren Höhepunkt, ihr An- und Ab-
schwellen. Daher lassen sich Kulturstile auch nur empirisch, a posteriori bestimmen.
Was romanisch ist, wissen wir in der Tat nur aus einer Abstraktion aus allen vor-
handenen romanischen Bauten heraus. Gewiß stört ein gotisches Fenster in einem
rein romanischen Bau nicht nur deshalb, weil wir an diese Zusammenstellung nicht
gewohnt sind, sondern weil es dem romanischen Formkanon nicht angeglichen ist.
Jeder Stil ist streng gegen den anderen abgeschlossen. Übergänge werden als solche
empfunden. Der Entwicklungsgang aber ist der der Assimilation. Jede Einzelheit
modifiziert den Nachbar, gleicht sich ihm an, der Aufriß dem Grundriß, das Fenster
der Säule. Nur in der Wirkung gleicht das Geschehen einer Strahlung von einem
ideellen Kernpunkt »romanisch«, »gotisch« aus, von dem aus die Randteile modi-
fiziert, auf den hin sie gerichtet werden.

Ganz anders liegen die Dinge beim Immanenzablauf. Auch der Immanenzstil
ist ein historischer, ein übergestülpter, kein konstitutiver Stil. Die Gesetzlichkeit liegt
in der Abfolge, nicht im Sein schlechthin. Die Notwendigkeit der Immanenz unter-
scheidet sich von der der Kausalität nur in ihrer Vorausbestimmbarkeit, ihrer Un-
beeinflußbarkeit. Steht beim Kausalablauf die bedingende Ursache an der Spitze
des Geschehens, so wirkt sie beim Immanenzgeschehen scheinbar ständig auf das-
selbe ein. Der Kausalablauf führt wie der Schneeball eine Lawine des Geschehens
zu Tal, der Immanenzablauf ist das abrollende Knäuel, das immer nur eine Folge
bestimmt, das einen immer gleichen, vorher bestimmbaren Vorgang bedingt. Die
Angleichung ist somit nicht die der Assimilation, sie ist apriorisch. Weit entlegene
Kunstwerke, die nicht die geringste Beziehung miteinander erfahren, sind sti'gleich,
wenn sie der gleichen Stilstufe angehören.

Die Einteilung in Zeit-, Volks- und Individualstil ist für beide Begriffsreihen gültig.
Der Zeitstil kann sowohl kausal (Gotik, Renaissance) wie immanent (klassisch,
barock) bestimmbar sein. Ebenso kann man den Volksstil kausal (rheinisch, fränkisch)
und immanent (taktisch und optisch) auffassen. Der Individualstil wird meist nur
kausal gefaßt, aber auch bei ihm waltet eine hier nicht näher zu erläuternde Im-
manenz.

Die Einteilung in Zeit-, Volks- und Individualstil ist eine objektive, es gibt
aber noch eine methodische. Das Immanenzgesetz entspricht der Polarität der Mög-
lichkeiten. In den meisten Fällen wird das Immanenzgesetz antithetisch ausfallen
(linear — malerisch; Vollendung — Unendlichkeit; Klassik — Barock). Eine Dreitei-
lung entsteht in dem Augenblick, wo sich aus einer Gleichzeitigkeit beider Elemente
eine entweder als angenehm oder unangenehm empfundene Mischung ergibt. Eklek-
tische Zeiten werden sie als Ziel erstreben, polare Zeiten als Manierismus ablehnen.
Im Grunde aber bietet auch die Trichotomie, der dreiteilige Aufbau nichts eigent-
lich methodisch Neues. Denn der historische Ablauf bringt es mit sich, daß sich
die Berührungszeiten selbst wieder polar zu den antithetischen Zeiten einstellen.
Aus dem dreiteiligen Aufbau wird also sofort ein vierteiliger: Klassik (objektiver
 
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