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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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BESPRECHUNGEN.

79

dem Gesichtspunkte ihrer Strebungen, beziehungsweise die (Lehre von den) Stre-
bungen in ihrem Sinn für die Persönlichkeit« (S. 5), oder — wie er es auch formu-
liert: »Der Charakter ist die Einheit aller Richtungsdispositionen des Menschen«
(S. 138). An einer anderen Stelle (S. 381) bezeichnet er als das Zentrum der cha-
rakterologischen Aufgaben: »Die Lehre vom Wesen des Charakters«. Was dieses
Wesen ist, eröffnet eine Variante, die der Verfasser im Anschluß an die Darstellung
der geisteswissenschaftlichen Psychologie so formuliert: »Man könnte auch sagen:
aus dem Zusammenbruch des Absoluten rettet die Philosophie als Restbestand die
Charakterologie« (S. 112). Diese Gegenüberstellung verschiedener Textstellen, die
den Gegenstand näher bestimmen, ist notwendig, um das vieltönige Buch stand-
punkthaft zu umreißen und so einer ästhetischen Betrachtung unterziehen zu kön-
nen, d. h. zunächst der Frage, inwieweit in ihm eine Problematik, die über das
engere Gebiet der Charakterologie hinausragt, mitberührt worden ist.

Schon der oberflächlichen Betrachtung ergibt sich aus der Fülle der Beispiele
an charakterologischen Analysen und anschaulichem Material die Vorliebe des Ver-
fassers für ästhetische Beispiele, die Vorliebe für an ästhetischen Stoffen oder Per^
sonen gemachte Beobachtungen und Analysen (vgl. u.a. S. 108 ff., 112 ff., 120 ff.,
179, 223, 242, 251, 280, 289 f., 321 ff., 377). Diese ästhetische Vorliebe des Verfassers
zeigt sich auch in der Heranziehung von Gleichnissen und Bildern (S. 23, 26, 36,
47, 183 ff., 308 ff., 376), wie er sie aus dem Gesamtgebiet der Ästhetik oder aus
deren Teilgebieten gewinnt. Zu den von letzteren bevorzugten gehört insbesondere
die Welt des Theaters und des Dramas (S. 226, 294, 329 f., 368) und anderseits das
Schaffen des Künstlers (S. 175, 217, 283 ff., 295). Daß dieses ästhetische Material
und dieser ästhetische Gleichnisstoff mit Vorliebe zur Belegung prinzipieller Klar-
stellung und zur analogischen Veranschaulichung benutzt wird, darf jedoch nicht
allein aus der besonderen Reichhaltigkeit ästhetischen Materials, das dem Verfasser
zur Verfügung steht, erklärt werden. Diese Vorliebe für ästhetische Belege und
ästhetische Bilder darf nicht allein aus einer besonders gründlichen Durcharbeitung
ästhetischer Probleme, wie Verfasser sie in früheren Werken geliefert hat, abgeleitet
werden. Vielmehr müssen wir im Angesicht seiner Charakterologie selbst die cha-
rakterologische Frage stellen (S. 380 f., 390). Und indem man diese Frage stellt,
wird sofort implizite eine zweite Frage mitgestellt, die so lautet: »Inwieweit ist für
eine erfolgreiche Bearbeitung charakterologischer Probleme eine ästhetische Veran-
lagung Bedingung?« — Mit anderen Worten: Die Bedeutung des Ästhetischen für
das Charakterologische überhaupt wird zum Problem. Diese Problematik, die gewiß
unabhängig von aller charakterologischen und individuellen Bedingtheit ist, wird
auch in des Verfassers Buch — ohne seine Absicht und, fast kann es scheinen,
gegen sie — zur klaren Einsicht gebracht. Mit dieser Problematik, die das Interesse,
das die Ästhetik an der neuen Wissenschaft der Charakterologie nimmt, begründet,
soll darum ausführlicher — unter gleichzeitiger Bezugnahme auf die Textstellen des
vorliegenden Buches — der prinzipielle Sinn einer charakterologischen Grundlegung
in Beziehung gesetzt werden.

In dem vorliegenden Werk, das zum ersten Male einen unvoreingenommenen
Überblick über das gesamte charakterologische Erfahrungsgebiet und die möglichen
Methoden und Materien der Charakterologie als Realwissenschaft gibt, hat der Ver-
fasser mit anerkennenswerter Selbstdisziplin das Charakterproblem auf seinen inner-
halb der spezifischen empirischen Gegebenheit vorhandenen sachlichen Bestand be-
schränkt. Die Gegenüberstellung seiner Definitionen, wie wir sie am Anfang gaben,
aber zeigt, daß er außerhalb der ihm speziell vorschwebenden empirisch-charakte-
rologischen Methode der Charakterologie- als Realwissenschaft sich der metaphy-
 
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