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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0090

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BESPRECHUNGEN.

sischen Verankerung der allgemeinen Problematik seines Gegenstandes bewußt ist.
Uns erscheint diese Problematik, die die Charakterologie an die Ästhetik heranführt,
vor allem in dem Begriff des Ausdrucks (S. 16, 32, 228) gegeben zu sein. Man kann
neben dem allgemeinen Sinn dieses Begriffes für alle Charakterologie überhaupt in
einem spezielleren Sinn auch von einer besonderen »Ausdruckscharakterologie«
(S. 55 ff.) sprechen, deren Methode es ist, aus den Merkmalen, die ein Charakter
einem äußeren Material aufgeprägt hat (z. B. Schriftzüge auf einen Bogen Papier —
vgl. S. 58, 77 usw.), den Charakter selbst rückschließend zu bestimmen. Daß hier
eine Repräsentation des Charakterogenen stattfindet, die in das Bereich der Ver-
tretung eines geistigen Inhaltes überhaupt hineinweist, wie sie auch unter anderem
das ästhetische Symbol erfüllt (S. 113), ist ohne weiteres ersichtlich. Noch weiter-
gehend hat man in der körperlichen Gestalt des Individuums (S. 17 f.), also in einem
Ausdrucksmaterial, das sowohl seinem freien Willen untersteht (wie z. B. Mimik
und Pantomimik — vgl. S. 52, 59, 62, — wie Kleidung — S. 19), als auch unab-
hängig von diesem die Existenz des Individuums überhaupt erst empirisch begrün-
det (z. B. Knochenbau S. 72 ff.), den Ausdruck einer seelischen Gestalt, also psy-
chischen Ausdruck, Darstellung, Symbol (S. 16 ff.) gesehen (so unter anderem Carus).
Eine Betrachtungsweise dieser Art steht unmittelbar vor dem Sprung ins Meta-
physische. Und gerade an dieser Schwelle, wo das Charakterproblem ins Meta-
physische hineinwächst, hat es eine tiefe Berührung mit der Problematik alles Ästhe-
tischen. Dies ist wohl auch der Grund, daß, solange es noch keine Charakterologie
als Wissenschaft gab, immer wieder gerade von der Seite ästhetisch bestimmter
Menschen ein schüchterner Versuch gemacht worden ist, in die Speichen des ein-
seitig nach der empirischen Seite abrollenden Rades der Psychologie einzugreifen
(S. 108 f.)').

Wenn man daher nach einer geschichtlichen Entwicklung der Charakterologie
sucht (S. 78 ff., 102 ff.), die bei ausschließlicher Beachtung dessen, was unter dem
Begriff Charakterkunde in früherer Zeit geleistet wurde, fast ein wenig zu ärmlich
und überraschend karg anmutet (S. 105 ff ), darf dieser metaphysische Hintergrund
nicht außer acht gelassen werden. Man muß sich bewußt machen, daß das Cha-
rakterproblem, solange die ethische Individualisierung der metaphysischen Persön-
lichkeit nicht bis zur letzten Konsequenz im kulturellen Allgemeinbewußtsein voll-
zogen war, sich mit Vorliebe hinter der Scheinwirklichkeit ästhetischer Unterhaltung
und Episoden verbarg. Gegenüber einem inhaltlich allgemeingültigen Sittengesetz
mußte — das beweisen die zahlreichen Narren spi egel und Narrenschiffe des
ausgehenden Mittelalters — die individuelle Abweichung des Einzelnen als Hoffart,
Eitelkeit, d. h. eben als anmaßende Narrheit und menschliches Torentum erscheinen.
Es war Aufgabe des Theaters, diese individuelle Abweichung in einer Art List über
das Zwischenspiel der Farce hinweg in zähem Kampfe dem Allgemeinbewußtsein
als eine Gesetzlichkeit eigener Art zur Anschauung zu bringen und so ihre beson-
dere Problematik bewußt zu machen, die heute als wissenschaftliche Charakterologie
eine eigene Forschungsmethode anstrebt. Begriffe wie: Maske (ein beliebter Aus-
druck für bestimmte charakterologische Phänomene der Selbsttäuschung — S. 139,
266 ff., 285, 296, 323 ff.), wie Person oder Typus (S. 108, 310), wie Repräsentation
oder Darstellung des Ganzen im Einzelnen (S. 177, 231) — Begriffe, die auch der
Verfasser des vorliegenden Buches anwendet und analysiert — deuten die Abstam-
mung der Charakterologie auch sprachlich an. Genauer ausgedrückt: sie deuten den

') Eines der letzten Beispiele hierfür ist Bergson, dessen Verwandtschaft mit
Schelling und Plotin in diesem Zusammenhang nichts Zufälliges mehr hat.
 
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