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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0091

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BESPRECHUNGEN.

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Weg an, den geschichtlich das Problem der Charakterologie — auch heute noch
erst auf dem Wege zu einem eindeutigen Problem — genommen hat, ehe es als
bewußte Realität der Wissenschaft hervortreten konnte.

Aber auch nach systematischem Gesichtspunkt ist Charakterologie mit der meta-
physischen Struktur des Ästhetischen verknüpft; eine problemnotwendige Verknüpfung,
die den Umstand erklärt, daß bei einer Beschäftigung mit charakterologischen Pro-
blemen sich Beispiele aus der Ästhetik und ästhetische Gleichnisse in erster Reihe
anbieten und zur Verfügung stehen. Wenn Wissenschaft die bewußte Erschließung
der Realität ist, so heißt Charakterologie die Erschließung einer besonderen Realität,
die — bisher sorgsam, fast heimlich gehegt von der ästhetischen Betätigung, abge-
lehnt, bekämpft und lange Zeit verachtet von der benachbarten Psychologie — eine
eigene Gesetzlichkeit bekundet, welche weit über das engere Fachgebiet der als
Wissenschaft jungen Einstellung hinaus dazu angetan ist, die allgemeine Proble-
matik der menschlichen Geistesstruktur und der dieser entsprechenden Lebensauf-
gaben zu erschließen und einer neuen Fragestellung entgegenzuführen. Es ist daher
kein Zufall, wenn auch Utitz in seinen Gleichnissen, die er in seinem ausgezeichnet
belegten und das spezielle Gebiet einer Realwissenschaft in kühnem Bogen um-
greifenden Buch zur Veranschaulichung anführt, immer wieder zu Bildern gedrängt
wird, die der theatralisch-ästhetischen Anschauung entnommen sind (S. 28, 210, 36Ü,
387). Man ist dann getrieben, über die inneren Zusammenhänge nachzudenken, die
gerade das Theatralische immer wieder als Gleichnisstoff für eine charakterologische
Besinnung empfehlen. Und man erinnert sich, daß schon einmal in einer mit cha-
rakterologischen Problemen erfüllten Zeit — der nach-theophrastischen (!) — das
Theatergleichnis eine bedeutsame Rolle für die Erleuchtung der Fragestellung ge-
spielt hatte, ehe diese sich ganz in religiöser Verschwimmung der Begriffsgrenzen
verlor: im Neuplatonismus! Damals wie heute schärfte der Blick für die empirische
Mannigfaltigkeit des Individuellen den Sinn für eine Wesenheit von tieferer Realität,
deren Agens in dem empirisch Vereinzelten und Verstreuten wirkt, sich darstellt,
sich ausdrückt, es erleuchtet und, indem es das Einzelne zur Form bildet, diese zum
Bild gestaltet und in der Gestaltung sich abbildet. Das plotinische Gleichnis von
der göttlichen »Rolle«, die jede Seele bei der Geburt mitbekommt, von der thea-
tralisch-kosmischen Aufgabe, deren guter oder schlechter Schauspieler und Darsteller
die individuelle Seele ist (vgl. hierzu besonders bei Utitz das Gleichnis S. 379!), er-
hellt aufs tiefste die korrelativen charakterologischen Zusammenhänge von wechseln-
den Form- und Inhaltsbestimmtheiten (S. 381 f.), die auch heute wieder — fast un-
bewußt — die gleiche ästhetische Problematik in den ruhigen Fluß empirischer
Methodik hineintragen. Denn trotz sorgsam aufgebauter Empirie erhebt sich jene
ästhetische Problematik der Gestaltssymbolik — wenn auch oft nur schüchtern und
gleichnisweise zugelassen — geradezu kategorisch, sobald die äußerste Oberfläche
des empirischen Charakters verlassen und der Blick tieferen Zusammenhängen und
Wesensbegründungen zugewandt wird.

Die Ästhetik darf daher von der neuen Schwesterwissenschaft noch vielfache
Bereicherungen ihres eigenen Problembestandes erwarten, so wie diese, die Cha-
rakterologie, sich des Dankes, den sie der Ästhetik, insbesondere dem Theater, für
Förderung in der Zeit charakterologiefeindlicher Betrachtung schuldet, nicht allzu
realitätsbegeistert entschlagen sollte!

München. Walter Meckauer.

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXI.

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