Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

DOI article:
Besprechungen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0094

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
84

BESPRECHUNGEN.

die in keinem kausalen Zusammenhang mehr mit den auslösenden Weltbegeben
heiten gebracht werden können: dann haben wir das große rätselhafte Phänomen
des Ursprungs der Kultur. Die Seele ist dann nicht durch ihr Geschick bestimmt,
sondern wird durch ihr Geschick nur mehr oder weniger verdeckt oder enthüllt.
In der Wissenschaft streiten kausale und morphologische Methoden, beide Parteien
haben recht; jede gilt für eine andere Sphäre der Wirklichkeit. Es ist ebenso falsch,
Goethes Existenz aus seinen von Natur und Milieu gegebenen Lebensbedingungen
restlos erklären zu wollen, wie es falsch ist, gleich Spengler die einzelnen Indivi-
duen wie ästhetische Gebilde, wie »im leeren Raum hängende in sich abgeschlossene
Monaden zu betrachten«.

Noch ein weiterer Denker und Forscher nimmt Stellung zu den charakteio-
logischen Grundlagen geistiger, kultureller, künstlerischer Gestaltung. Sein Beitrag,
aus strenger Fachempirie hervorgewachsen, ist auf diesem Gebiet vielleicht der fra-
pierendste: R. Gaupp schildert das dichterische Schaffen eines von ihm beobachteten
Geisteskranken, eines paranoischen Massenmörders. Er analysiert eine dramatische
Dichtung desselben im Hinblick auf ihre individualpsychologischen Ursprünge und
Sinnhaftigkeiten. In diesem Drama erhebt sich der paranoische Dichter über sein
eigenes Schicksal, er meistert es, indem er es in künstlerischer Form objektiviert.
Die Dichtung wird ihm zur Befreiung von Zweifeln und schwankenden Einstel-
lungen des Mißtrauens, sie wird ihm aber auch zur Rechtfertigung seines Selbst-
gefühls, indem er den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Verfolgung und
Qual einerseits, Kraft und Größe anderseits darin objektiv niederschlägt. Auch für
diesen Mann gilt, daß allein im Wahn seine Größe liegt. Ohne ihn wäre er klein.
Der Wahn hat seine Affektivität ins Grandiose gesteigert, hat seine Taten zu furcht-
baren Geschehnissen werden lassen; der Wahn hat ihn zum Dichter gemacht und
zu Dichtungen gebracht, denen man als Zeugnissen menschlichen Leidens nicht ohne
innere Teilnahme gegenüberstehen kann. Aber seit sich der Wahn wandelt und
Selbstüberschätzung und Größenwahn die Seele stärker bewegen als Kummer, Furcht
und Haß, geht seine schriftstellerische Kraft zurück, verliert sich die objektive Ge-
staltungsfähigkeit in ihrer Intensität, und man kann sich des Eindrucks nicht er-
wehren, daß das, was er heute dichtet, trotz ungeschwächter natürlicher Begabung
mehr von der Notwendigkeit geistigen Arbeitens als von der Gewalt der eigenen
nach Form ringenden inneren Erlebnisse bestimmt wird.

In einem Werke von solcher Fülle und Vielfarbigkeit des Stoffs wird natur-
gemäß jeder Leser auf andere, ihn besonders angehende Einzelarbeiten den Haupt-
akzent legen. Wenn daher der weiteren charakterologischen Studien über bedeu-
tende oder eigenartige Einzelpersönlichkeiten hier nur kurz gedacht wird, so soll
damit kein Werturteil verknüpft sein. Willy Andreas gibt eine charakterologische
Biographie eines russischen Staatsmanns aus der Restaurationszeit, Peters von Meyen-
dorff. An seiner Studie werden die Grenzbeziehungen zwischen historischer und
charakterologischer Forschung feinsinnig sichtbar gemacht. Oskar Kraus steuert eine
Biographie Albert Schweitzers bei, des Denkers und Künstlers, des hoffnungsvoll-
kühn aufstrebenden jugendlichen Geistes, der vom Erlebnis christlicher Liebe über-
wältigt, eigenen Zukunftsglanz opfert und im Mannesalter Medizin studiert, um so
als treuer Helfer der Wilden im unbetretenen Urwald seine erlebte Mission zu er-
füllen. Aus dem Nachlaß Franz Brentanos werden einige Gedanken dieses großen
Denkers über Prophetie erstmalig publiziert. Von Kern stammt eine feine Sinn-
deutung des Werkes von Carus.

Andere Arbeiten gelten, ähnlich wie die Prinzhornsche, dem Versuch allgemeiner
Fundierung der Charakterologie von bestimmten Grundanschauungen aus. So Birn-
 
Annotationen