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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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BESPRECHUNGEN.

Stellungen des von Eckermann Überlieferten gelangen. Erst Julius Petersen ist aufs
Ganze gegangen und hat den Ertrag langjähriger Bemühungen um das Eckermann-
problem in einer Abhandlung der Preußischen Akademie der Wissenschaften zuerst
und, vermehrt und verbessert, im vorliegenden Bande konzentriert. Und das Problem
ist im ganzen Umfang philologischer Fragestellungen hier so klar und eindeutig
gelöst, daß dafür nichts zu tun mehr übrig bleibt. Auch die von Houben in seiner
Eckermannbiographie mitgeteilten Tagebuc hstücke haben Petersens Ergebnisse nicht
erschüttert. — Zusammengefaßt: die Glaubwürdigkeit der Eckermann-Gespräche ist
zerstört, wenn man glauben wollte, Goethe habe so im Wortlaut gesprochen. Der
Gang der Untersuchung führt in die äußere und innere Entstehungsgeschichte der
Gespräche zurück, in die Erkenntnis der geübten Arbeitsweise Eckermanns, der ver-
folgten Zwecke. Der Verfasser greift zu Eckermanns Nachlaß, seinen ungedruckten
Briefen, Aufzeichnungen Dritter, die mit Eckermann gleichzeitig bei Goethe waren,
vor allem zu Goethes Briefen und Tagebüchern, um die Zuverlässigkeit der »Ge-
spräche« durch kombiniertes Vergleichen mit all jenen Zeugnissen zu erproben. Aus
tabellarischer Gegenüberstellung sämtlicher in Goethes Tagebuch und in Aufzeich-
nungen Dritter erwähnten Gespräche und der von Eckermann in seiner Publikation
bestätigten ergibt sich gleich zu Anfang, daß nicht weniger als 761 von 955 oder
80 Prozent der Gespräche Eckermanns mit Goethe, von denen wir Kunde haben,
von jenem gar nicht verzeichnet worden sind und er ein vollständiges Tagebuch
seines Verkehrs mit Goethe also entweder hat nicht geben wollen oder nicht kön-
nen. Das langsame, ungleichmäßige Wachsen und die Wachstumshemmungen in
der Aufzeichnung der Gespräche macht uns ein Kapitel über die Entstehungs-
geschichte mit neuen Aufschlüssen über Eckermanns Persönlichkeit begreiflicher.
Im VI. Kapitel, als dem Kernstück des Werkes, werden uns »Die Spuren der Ent-
stehungsweise« in der Form der Gespräche nachgewiesen und sechs verschiedene
Schichten aufgedeckt: 1. Tagebuchaufzeichnungen in skizzenhafter Urform, 2. wört-
liche Aussprüche Goethes ohne Angabe von Raum, Zeit, Gesellschaft, Anlaß, 3. Aus-
arbeitungen ursprünglicher Tagebuchaufzeichnungen (so einmal einer Tagebuch-
notiz von Stichworten nach 14 Jahren zu einem Gespräch von 17 Seiten), 4. zu-
sammengesetzte und verlegte Gespräche, 5. Überarbeitung fremder Materialien, und
zuletzt 6. die eigenen Erfindungen Eckermanns im Geiste Goethes, — wie er ihn
begreift. Die Glaubwürdigkeit der Gespräche richtet sich also jedesmal danach,
welcher Überlieferungsschicht sie angehören, und in einer Tabelle wird schließlich
jedem einzelnen die seinige bezeichnet. Dabei bedeutet die Stufenfolge der Gruppen 1
bis 6 »Schritt für Schritt eine Entfernung von der biographischen Tatsächlichkeit.
Aber diesem Rückschritt entspricht in der gleichen Aufeinanderfolge ein stetiges
Fortschreiten von Materie zu Geist, von Stoff zu Gestalt, von Chronik zu Mythos,
von passiver Registratur zu schöpferischer Anschauung, von zerstreuter Vielheit zu
lebensvoller Einheit, von zufälliger Wirklichkeit zu künstlerischer Wahrheit.« Mit
der biographischen Unechtheit ist also die wesentliche, die Echtheit im Goetheschen
Geist wohl vereinbar, und das letzte Kapitel preist die Harmonie und Einheit des
Goethebilds, in der Eckermanns Reproduktion, Rekonstruktion und Neuschöpfung
Goethes verschmolzen sind. — Der Wunsch wird rege, daß der Verfasser das letzte
Kapitel von der künstlerischen Leistung zum zweiten Band eines Eckermannwerks
ausgestalte, das Goethebild Eckermanns vor uns entfalte, wie es im einzelnen die
Tradition verändert hat und worin weiterhin die Goetheforschung bestimmt; nicht
zuletzt endlich wird man wünschen, daß des Verfassers innige Vertrautheit mit
diesen Problemen uns noch zu den Einsichten verhüft, welche Ergebnisse heutiger
Goetheforschung und -deutung durch seine überraschenden Erkenntnisse von einem
 
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