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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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Wittsack, Richard: Rhythmus und Vortragskunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0270

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258

EWALD GEISSLER.

ist das Innerste gegenwärtig. Er ist nicht mit dem papiermäßig auf-
zuzeichnenden Metrum zu verwechseln sondern entsteht erst, wenn
ein von außen an die Sprache herangetragenes orchestrisch-musika-
lisches Schema mit der Irrationalität der Sprachmasse zu einem völlig
Neuen verschmilzt, einem fast bei jeder Dichtung verschiedenen Ge-
bilde eigenster Art.

Wohl werden auch andere Klangeigenschaften, neben Stärke und
Dauer auch Höhe und Farbe, vom Dichter geformt und gesetzt und
ergeben in vielfacher Durchdringung der Sprache ein Netzwerk von
Eigenschaften, von mindestens einem Dutzend unabhängiger Variablen,
deren vollzähliges Zugleich erst die Sprachschallform umschreibt. In-
dem aber dabei zu scheiden ist zwischen dem, was der zergliedernde
Klangforscher als tatsächlich vorfindet und dem, was der klangauf-
bauende Sprecher hintergrundhaft bewußt haben soll oder darf, ergibt
sich die besondere Wichtigkeit des Rhythmischen für die Vortrags-
kunst. Denn während z. B. die melischen Eigenschaften von dem im
Herauspräparieren von Einzelmerkmalen nicht besonders Geschulten
um so unsicherer gegriffen werden, je ausdrücklicher er die Aufmerk-
samkeit auf sie richtet, ertragen es die rhythmischen Eigenschaften,
gewollt zu werden. Sie sind das Knochengerüst der Schallform, das
sich, wenn es fest hingestellt wird, nunmehr leichter mit den anderen
Klangteilen umhüllen läßt: auch mit solchen, die, wichtigst in ästhe-
tischen Wirkungen, dennoch im Akt vortragender Klangerzeugung als
solche am besten im Dunkel bleiben.

Die Mannigfaltigkeit des Rhythmischen zeigt sich in der Fülle seiner
Bestandteile. Diese zeigen Schwerebeziehungen (oft überraschend ab-
weichend von dem, was wir landläufig messen, z. B. kaum je Jamben:
was wir so nennen, sind fast immer sogenannte Trochäen, fallende
Rhythmen, wie sie dem Wesen der deutschen Sprache entsprechen),
Zeitbeziehungen (die in deutlichen Quantitätsverhältnissen von Hebung
und Senkung sich auch im Deutschen finden, wenngleich zurück-
tretend hinter den Schwerestufungen) und schließlich Gruppen-
bildungen1).

Als Kampferzeugnis zweier entgegengesetzter Kräfte, einer außer-
sprachlichen Bindung mit der Sonderart sprachlicher Eigenwilligkeit,
ist der Rhythmus nicht eine Linie, sondern eine Zone, und verschie-
dene Zeitalter halten sich innerhalb ihrer gern in verschiedenen Ge-
genden auf. Der Naturalismus, dem die Masse der Bühnensprecher,
gerade im klassischen Drama, auch heute noch zugehört, kommt vom
»natürlichen« Sprachakzent her; über die Grenze, wo der musikalisch-

') Vgl. die Verslehre von Franz Saran.
 
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