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Badische Post: Heidelberger Zeitung (gegr. 1858) u. Handelsblatt (61): Badische Post: Heidelberger Zeitung (gegr. 1858) u. Handelsblatt — 1919 (September bis Dezember)

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Nr. 280-304 (1. Dezember 1919 - 31. Dezember 1919)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3728#0658
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o-cr SAtt'cinefleisch, iväbrcnd n'.an sich Gesundkcit sichcrn kaun. wcnn
man sich niir 1>i->ujcchr-:'chne<: mäscht und >es ucrmcirct. am Ncuj.i:'r5:
tagc Aepfei zu csscn, dre Krankhert bringcn soI7"N. wenn nc an Lic,en'
bedeuninnsnollen To-rr vcrzchrt ivcrden. Vor Vcrdrus; bcwcchrt, man
sein §>aus. U'cnn man über die Türschwclle etuias Ncujahrsschre«'
. strcut. und vor Famnienstrcit. menn Jcder cin Stück Brot verz>chrt.
das ihni Lcr Andcrc abgeschuitten hat.

Erne >lingeht.ucre Menge von Neujcchrswünschen goht alljährlich
Äier die Erde, sobald an cinem Ort dic Uhr in dor Snlvcitcrnacht
d'n zmölften Schlag sollendet hat. und doch crtöncn allc dicse Wüin
sch keineswegs 5n aleicher Zeit. Wenn wir den Mitternachtsfchlag
u"serer Ülu'en vernehmei:. graut bei dcn B-wohnern der östlich von
uns liegendcn Ländern schon längst der Neufahrsmorgön. wogcgcn die
westliche Erdbälfte noch lunge Stunden warten muü. ehe die Mitter-
nachr ihr das noue Iabr lündet. Wo auf dcr Erd: bricht abcr das
neu: Iohr zucrjt an? Diefe Frage ilt nicht schwer zu lösen. da es sich
nnr darum handelt. eine Eegend ausfindig zu inacheu. die möglichs,
nahe tieni 180. Erad g.lesen isr. Nchmen wir nun als brlebt.. Erd-
striche cinige nur von wenigcn Eingebvrenen bewshnte Sü.dsee-Inscln
aus. so kommt eigentlich nur die Nordinsel Neus<'eland5 tir B'ötracht.
odcr auch die zwac sch-n etwas aus;crhalb des 180 Erades geleqcnc
Inscl Chatham der Broughton-Eruppe. die jedoch. weil sie gleichzei-
tig zu Neusecland gehört, auch dessen Zeit angenommen hat. Da nun
cruf Chatham auch cinigv Europäer lebsn. dar: inan annehnren. dasi
die allerersten Neujahrswiinschc von der fernen. einsamen tleinen
Insel in der Südjse ausgebLn.

Doch sei es m Nord oder Süd. überall werdc". sich ioohl in d:e-
som Iahre die gleichen Wünschc begegnen. die 5)otinung auf einen
dauernden Frieden und auf cia Wiederaufleben der- krkegszerciuälten
Menschheit. Für die dentiche Heimat mag es wohl ein schweres Iahr
werden rwller eisenharter Pflichten und nimmermüder Arbeit. Un^ so
soll hier denn auch kein gerühlsweicher Ergusi. so.lder' ein frischer,
kcrnhafter Neujahrsgrusi Eo-ttzec ins nieue Iahr biniibicführen-
Zum Neuen Iachre Elück und Heil!

Auf jede Wunde eine Salbe!

Auf groben Kloh ein grober Keil!

Auf leden Schelmen andcrthalbe!

Geduld . . / Konrad Ferdinand Meyer

Eeduld, es kommt der Tag. da wird gespannt

Ein einis ZE ob -allem deutschen Land !

Geduld, wir stehen einst um ein Panier^

Und wer uns scheiden will. l-en morden wir!

GedAld. jch kenne meines Volkes Mark!

Was langsam wächst, das wird gcdoppelt stark.

Eeduld. was laygsam reift. das altert spatl

Wann andere welken. werden wix ein Staat.

Svlitter / Adolf Mayer

Eleichmochcrei läuft gewöhnlich auf Mitteilung der Laster an
d.c auf Eü'ichhcii Drängendcn hinaus und nicht auf eine Verallgemei-
nerimg der ^.ugcnden tes beweideten Standcs oder Eeschlechis.

^rciheil ist ohne Zweifel die EelcgLNhei't. tun oder lassen zu
löunen. rvas eincm beliebt. Da aber oerichiedene Menschen verschie-
dene Dinge leliclen. so ist dir formelle Erfüllung d s Freiheitsbe-
grifjes cine verschiedene und der Begrisf selber ein »elcrtioer.

Die Frciheit des Lasterhast.'N ist Züsellosigkeit.

Ter B,lkcr..lsi ist woln imm-'r selüns'är Die bloke Eegnerschaft
wnd b'Nw.! : dinch , as polllijch. Interesse. Ab.'r dann wird unbe-
wu'st. ' >:d in neuerer Zeit manck; i.al gar.z bewuszt. der Eegner durch
b cmeuvnl' hc.ylgcr Legenden znm Feinde auch bes Herzens und
dcc "-emutes gesaibl. gleichwic drr Forstmann im Walde die Stämme
bb,euynct. d,e gcchllt wurden 'ollen.

' .r. unrecht hätte nnd die Weltgeschichte dennock

incht dos W.Itgeruht ware! Wenn es nur so schicne. wcil der Eewiw
ncn c immrc d:e Ee egenheit hätte. dic Eeschichte zu fällchen! Es
wcr: b'-rchtbar Aber man miiglc dennoch die Illusion des optimisti-
»"L'TEmiMI w- d-° M-nMeit. d» d-ren
^rNeren dar?^ Hosfnung mit d.-r Unsichcrheit des Eieges

tas Prinziv d,s deutschcn Stoats-
Ä ^ das des englischen Ab-r man vcrgisit. dasi der deut-

"" We-ntlichen dazu di,ni. den N.-üicrenden die
^L-^^itzu vecichanen zu Arastnahmen im Intercsse Aller, die
Iv.iheit m England n,chl>chen werden musi. durch dm rhetonsch"
^hrcisc, durch die öffentlich- Lügc. d-irch Tä'ischun/aller Art dmch
die ich.ie^lich auch dic <>rechcrt drs Einzelnens»-, Enmdü geht. '

Neujahrswunsch / Ludwig Uhlano

Wcr redlich hält zu seinem Volke,

Der Wünsch ihm ein gesegnet Iahr!

Vor Mißmachs, Frost und Hagelwolke
Behüt' nns aller Engel Schar!

Und mit dem bang crsehnteii Korne
Und mit dem lang crsehntcn Wcm
Bring uns dics Iahr in soinem Horne
Das alte. gute Rccht herein!

Man lann in Wünschen sich vergesscn,

Man wünschet lcicht zum Ueberfluß.

Wir aber wüuschen uicht vermcssen,

Wir wüuschen, wns man wünschen muß.

Deitn soll dcr Mcusch im Leibe leben,

So brauchet er scin täglich Brot,

Tlnd soll cr sich zum Gcist erhebeu,

So ist ihm seinc Frciheit not.

*

Lheodor Fontane

Zum lOO. Erburtstage -cs Dichters. a,n 80. Dez'mbör ES
Von Prof. Tr. riricharv Dol)fe
Das Iahr 1810 ist eines l-er b'.deutrndsten in der deulsck.-'ii
Literatur. Es hat uns drei Dichter gcschenkt. die jeder in seincr Art'
cin b^ond-res Eeprägc haben uud omcn Typus für sick darstülen:
Cottfried Kcller. Klaus Eroth und Theodor Foutane. Ein Eemein-
sames bind.t die drei. D-as ist ihvc ganze Lichterischü Richtung. ihr
fcstes Wurzeln im poetischen Reailisnius. Eiu wenig eigenwillig wie
K:llcr. schlicht und g.rade wie Eroth war auch Fontane. Dabei nb--'r
steht er doch ganz als Eigener neben den beidsn, was schon in der Un-
terschiedlichkeit ihrer Stammesngentümlichkeiten. in ihrer schweize-
rischen. dithmarsischen und märkischen. mit französischem Blut gemisch-
ten Wesensart bi?grünliet liegt. Eeradü dstst Alüchung von sranzö-
sischenl und märkischem Blut bei Fontane ist es. die jenen Zusanrmen-
klang von verstandesmäßiger Schoiffensweise und einer lLichten und
liebenswürdigen Art zu plaudern. sowie jene kulturelle Atmosphäre
M 2vege grbracht hat. die wtr imnyrr rmeder an den Wersen hes
Dichters vom neuem schäßen.

Fontane ist eine dichterisckst Persönlichkeit. dic. wenn man sie
auch nrcht unter die Eroßen unseres Schrifttums rechnen kann. zwe'i-
fellas von weittrasendsr und bleibendcr B-deutung ist. denn der
Dichtcr schuf nichts mehr und nichts weniger aks den moderncn deut-
schcn Milieuroman. um dbin sich sckp>n viele var ihm semüht hatten,
ohne von dem Geschichtsroman alten Stils oder ciner falsch verstan-
denien Romantik loszukomimen. Zhm ist es nicht mechr um die Ge-

wo er einige Iahre als Vsrichterstatter weilte. und später auf hei-
mischem. märkiichcm Doden. dewcis-en seine hcrvorrageude Fählgkeit?
sich in die Natur. in das Geschichts- und Völksleben hier wie dort
cinzufühlcn Als dcr Dich-trr pierzigjährig aus England >als Redak-
teur der >.Krcuz,zcitung" nach Vsrlin zurückkehrte. da brachte er dic
drei Erbebniffe mit „Ein Sommer in London". „Aus England" und
„Ienscits dcs Tweed"; da reifte auch in ihnt' zugleich der Eedanke.
nun auch seinc Helmat in ähnlicher Wc'rsv zu schildern. Er jchreibt:
«Aus einer Tour in Schottland. angesichts eines im Lewan-See srch er-
hcbenden alien Douglas-Schlosses war es. wo mir znerst der Eedanke
bain: je nun, soviel hat die Mark Brandcnburg auch. Eeh hin und
zeig es." Der Ecdanke wurde zur Tat. Iahrelang hat Theodor Fon.
rane die Mark kreuz und guer llurchwandert „lit hellen Augen und
warmem Herzen. Lr hat in d:e Vergangenbeit dcr Marken hincin-
gchorcht und hat die Eegenwart frisch und unbekümmert in all ihren
Aeußerungen. in ihrem Volkstum und ihrer Sprache. ihren Mnnrrn
und Frauen und der Fülle ihrer Naturreise auf sich wirkcn kaffen. So
cl.1stant<:n dstse .WanderiungLn durch di.> Mark Brandenburg" jene
poeliscken Bücher. in denen stch feinste Beobachtung. dichterisch'e Ve-
seelung. intimsts Stimmungskunst. geschichtlichc Skizzen. Balladen- u.
AnekLatenhaftes zu schönster Harmonie vereinigen. Und diese äMetisch
höchst reizvollen in unterhaltfamsm Eeplauder dahinflichsnden von
Erinnerungen und Erlebniffen mannigfaltigster Art durchwobenen
an Sogcn, Leigendien und Märchsa reichcn Zustandsschrlderungen wer-
de.i eine Art Vorstufe zu den späteren arsßen Rdmanen Fontanes
d'e im Grunde auch nichts anderes sind. als solche LLanderungen und
Wandlvngen. die einmal hier verwcilen, einmal dort und immer in
crster Linie das Bildhaste der Darstellnng in dcn Vordergrund
rücken.

Auch ii: andcrcr Bczichung ist des Dichters Aufenthalt in England
von grdßter Bedeutung für sein poetisches Schi^en gewesen. Er lemte
hicr außer Walter Scott vor allem Percys „Reliques" und somit das
Mesen und kic Eigenart der alten. englischen und schottischen Bal-
klden kenncn. die auf ihn einc nachhalt'-ge Wirkung ausübte inüom
Iic ihn zur eigenen Ballädendichtumg trieb die dann später einen we-
^nMch.-n Bcstandteil seincs künstlerischcn Schaffens ausmacheu

. rwetiiche Eesamtwer? Fontanes ist akso aur das Engste ver-

knupst mit der Entwicklung und dem Eang seines Lebens. Schon die

dr. cr nlMt joudcrnch schäßtö. dis Lrziihung im EltetnhaU'-
N>u . uvpii' ul der Mark seine praktrschrn Iahrc ats Apothcler.
als Iourua.ist uiid Kritiker. seine Tätvgkeit als Kriegsberichterstctter
i§6-1 auf dcu Schlachtfeldtzrn Schleswig-Holsteins. 1806 aus l'enen
Böhmens und 1870-71 in Frankreich. allos das hat er uns ja selbst
farbenprächtiaer Darsbelluug in feinen Büchcrn „Meine Kin-
d.rjahre". „Lon zwanzig Äis dreißig". ..Kriegsge-
langen" u. a. iselbst darg-estellt. und fcdcr. der Fontaue nnrüich
icnnen lcrnen und studieren will. muß vornehmlich zu diesen Werken
üreifen. die zu den bestcn sclbstbiogvaphrschcn Düchern und zu drn
vortrcfslichsten Schilderungen der drei Kriege gehörcn. die wir ü-ber-
haupt besitzcn

Jn seiner Balladendichtung rechnet F-ontane vollends zu den
Meistern. Zunächst noch unter dem Einfluß Herweghs nnd des Era-
fen Strachwiß. dann unrer dem der englischen und schottischen Ballade
nngt er sich bald zu eigenen Töncn durch. Es gelingt ihm fast immer.
selne Stoffe restlos zu bewältigen. ab sitz nun der nordischrn. der
englisch-schottischen. der heimatlich brandsnLnrgischen Eeschichte und
Sagc entnommen sind oder, wie später. in wenigcr schwerer. inehr
b.-trachtender, z. T. bchalglich lMmorvloller Art mckdcrne Zeit- und
Lebensbilder oder Eclegenheitsgedichte im Lesten Wortsinne gebcn.
Ohnie faliches Pathos. ohne hohlen dithyrambischrn Schwung. klar
und scharf umrissen. sind seino Valtadcn von ganz eigenartignm Reiz,
zumal auch nsch. nämientlilch -bei den moldernen Stücken. troß der
balladenhaften iFärbumg doch jener bshagliche Plauderton überwiegt,
der Fontane auch sonst kennzeichnet. Im Einzelnen herauszuheben
wären etwia die gesenständliche, -an SyaLespeares „Macbeth" ange-
lehnte Dichtnng ..Die Brücke am Day" oder „Barbara Alban" oder
die b.'lui'iit.st»: Ballnde rom Erafen „Archibald Douglas". von dem
das köstliche Mort gi.-prägt wird, das auch für den Dichter selbst in
vollem Maße Eeltung hat: Der ist in tiefster Seele treu, der die
Heimar licbt wie du! 'Wcitcr die kraftoollen Valladen aus der mär-
iijch-prcußischeii Eeschichte. wo der scharfs Wirklichkeitssinn des Preu-
ßen und des echten Rorddeutschen Foniane zu schönstem Ausdruck
kcmimt, dis schlichten. von echter Vateelandsliebs getrrrgenen Kriegs-
dichtur.gen, die aus Liebs und A'nhänglichkeit söwobenrn Balladen
auf Kaiser Wilhelm l-. Fricdrich lil. und Bismarck. unter ihnen die
lcßtc und vielleicht schvnste Dichtung Fontanes überhaupt „Wo Bis-
marck licgen soll" und endilich die zaihlreichen. tzumor- >u.nd gemüt-
vollen modernen T-alladen. — An reichex Lyrik tzat Fontanc uns
zwar nur Weniges hinterlaffen. icvber -ainch tzier logen einige kurze
Verse von der Tiefe stzines Gemüts- «und Empfindungslebsns beredtes
Zeiusms gb.

Neben de.m BalladSndichter steht dann gleichwertig der Romiair-
dichter. Hier :sr Fontane bistzer unerreicht geblieben und hckt. wie
schon ongÄeutet. e-igentlich erst den großen märkischsn oder den Ber-
liner Roman geschrrffen. Willibald Alexi' kam seiner Art wotzl schon
in einigem inche. ober erjt Fontane sollte er völlig geltngen. Eleich
sein erstes Werk, der gefchichtlich orientierte Romau „Vor dem
Sturm". ,den er schriicb, ails er schcm ifast sechzig Zatzre alt war.
bedeutete einen Meisterwurf. Hinzu kamen dann die weiteren gro-
ßen markischen Romane oon denen man keinen nrissen möchhe „Ce-
cile". ..Irrungen, Wirrungen". Frau Ienny Treibel".
„Effr Briest", „Die Poggenpuhls" und endlstz »Der
Stechlin". In jedem ist ein Stück WirklichLei.t zu arerfbiarfter
Lsbendigkeit geworden, aus jedem spricht die reife mid tiefe Welt-
imd Mcvschcnkcnnlnis des Dichters, in jedem ist ein getreues Bild
der mcdcincn Berliner Eesellschaft.. g'cMbcu. Ileberall ist auch brson-
ders die Umwelt. mit großer Meistcrschaft getrofsen. Hinzu kommt
eudlich die schon erwähnte Eigenart Fontanss. großen tragischen Ge-
ichehniffen oder Handlungen Lewegteror Art <ms dem Wege zu sehen
und sich stets mehr an das Milieu und an die Menschen selbst zu
halten. die ihm beide weit wichiiger ericheinen. als spawnende oder
avfregende Bcgebenheitcn. Daher dies eigenartig stille Gleitsn der
Darstellnng. das rstnem Fluß gsticht. tier in Windungen und Krüm-
mungeu dahinzieht. ohne brausende Strömung. -aber ihier und dort
behaglich verweilend und dock> klar Weg >und Ziel oersolgnd. — Es
licßcn sich aus der großeii Reihe öer Romane des DichterÄ noch
manche ansügen. die g'.-eichfalls von Wichtigkeit und Diedaütung sind.
doch cs mag genügen. hier nur auf die prächtigr. bei S. Fifcher in
Berlin cischicncne Iubiläums-Ausgabe seiner gesammelten Werke hin-
zuwe'sen. die nebcn dcn dichterischen auch die selbstbiographischen
Wcrk.', dic Tagebücher und Vriefe Fontam-s umfaßt. soivie auf das
von Ernst Hcilborn ebendort hermisg---g>-.'bene vortreffliche „Fontane-
üp u ch", das in liebevoller Weise allertzand wertvolls Beiträgtz zu dcs
Tickters Ekarakteristik nnd mcknches bisher Unverüfsentlichte aus dem
Nachlaß enthält.

Dcr 100. Eeburtstag des Dichters muß für das deutsche Bol-k
ein Ehrcntag sein. dönn wiie Foutane als Aklensch eine durch und durch
deutsche Persönlichkeit voll verstehender Eüte, voll kräftiger Eigenart.
voll milder Vexsöhnlichteit und voll treuer A'ntzänglrchkeit an seme
märkiscke Heimat wdr. so getzört auch sein dichderischtzs LebenswLrk
n.it zu den wenigen bleibenden B«sißtümorn unserer Literatur und
zugleich anch. da cs das Wesentlichs des deutschen Etzarakters irnd
der deutschen Art in Echtheit nnd Treue wiederzugeben vermag, zu
den unoergänglichen Heiligtümern unserer ddutschen Ration .

All Labsal, wäs uns hier Leschieden.
Fällt nur in Kampf-und Streit uns zu:
Nur in der Artzeit wohnt der Frieden
Und in der Mützs wohnt die Ruh'

„Oceane von Parceval"

Von Lhcovor Fionlane')

Tcndenz: Lllseniein mit modc'rnem und romantisterendem
Anflug Szenerie: Heringsdorf

Es-Aitzt Unglückliche. dio statt des Eefützls nur die Setznfucht
nach dem Gefützl haben und Kese Sstznsucht macht sie reizend und
tragi'ch. Die Elementargeistcr sind als solchL uns unsympathisch. die
Nixe bleibt uns gleichgültig. von de>m AugenÄlick an nber. wo die
Turchichnirtsnix'c zur exzeptiol ellen Me-lusine wird. wo ste sich einrei-
heil möchte ins Schön-ÄNenschliche und doch nicht kann. von diesem
Augenblick an rührt sie uns. Oceane von Parceval ist eine solche
moderne Melusine. Sie tzät Liebe. aber keine Tra-uer, der Schmerz
ist ihr fremd, alles. was geschieht. wird rhr zum Bild. und die Schn-
sucht nnch einer ticferen Herzensteilnatzme mit den Schickfalen der
Aienschen wird ihr selber zum Schickfal. Sie wirft das Lsben weg.
weil sie fühlt. daß ihr Lcben nur ein Scheinletzen. aber kein wirkstches
Leben ist. Sie weiß. daß es viele Mel-Uisinen gibt; aber Melusinen,
die nicht wlssen. daß sios sind, sind keine; sie weiß es. und die Erkennt-
nis tötet sie.

Dr. Fclgentreu, Gevmanist, Privatdozent an dex Universität
Berlin, Privatdozent mit drej ZutzArern. tres faciunt collegiumi. Er
hat so viel Edda ulw. gelesen. daß er mitunter in einen rhapspdischen
Ton verfällt und in Alliteraitionen spricht. Er tzat- aus der Edda
cuch die Elementarnnschauungen. d. tz. die Anschauungen von der
Wirksamkeit dös Elemcntaren auch in der Menschennatur tzerüber-,
genommen. Pantheismus. Naturkultus. Dabei hät er eine tzuinivri-
stische Ader uyd persifliert sich selbst.

Die rltere Parceval darf irur Engläirderin sein: von Jersey
herstammend. wirkt etwas gefucht und kompliziert die Sache.

Baron Ewald o Dircksen. Forstakademriker, Cberswaldie, vorm
Examen. Moderner Mensch. aber liebenswürdig.

Einrge Offiziere, junse Ministerialräte. Pastvr Beltzer. Maler
(See- und Akarinemaler), Musiker usw. „Charles" der Oberkellner.

.... Fslgentreu war immer ern Krackeeler, ein Frondeur in
der Politrk. cin Krakeeler im Klub, ein Zweifler in der Eesellschaft.
Was ist denn mit diesem Kokettieren und Wichtigtuiereien. auf die
er anspielt? Ist es denn nicht alles natürlich? Die Mutter ist von
der Insel Iersey. also tzalb Französin. halb Engländerin. Oceäne
wurde in Dänemark geboren, und in Deutfchland leben ste. Das gibt
drei Sprachen. Und in Jta-lien warsn sie natürlich auck. W:r wäre
nicht dägewesen? usw. usw.

Düne. Hotel. Rechts in der Eck- der Held, Srtuation. Eäfto.
Rast der Eesellfchaft. Boote fatzren näch d«m »Ruden". Er liost oder
liest nicht. Die Parcevals kommen. Krimstecher oder Msrnglästr.
Der Kellner bringt L'rmonadegazeust und narürliches Selterwasser.
Westminster-Review, cder so ähnlich. Er bevbaMet sie. Beide setzr
schön. Er sieht den Freund unten. telegraptziert mit den Händen:
„Du fährst wotzl mit?' „Nei-n." „So so". Die Damen satzen es und
lächllten. Sle: Teint, rotblond, Herz — und zwei Mmderzähne.
Der Seewind ging Buch^ckern fiölen nieder. Bvllerschüffe, Mrrfik.
Czenerie. Dic Damen brechen auf Er sietzt ihnen nach.

Nun komtnt der Fremrd den Dünemveg tzerauf. Eespräch.
Fragen. „O. das sind die Parcevrls^" „IL tzielte sie für VnMn-
der." „Das paßt tzalb." „Wws i5t es mtt ihnen?" „Nun. dve Tochter
ist kcmplizierter Abstrrmmung: aus einer französisch-englischen Ehe
hervorgegangen. wurlst sie in D.änemark gäboren -und ist seit frützester
Iuscnd eine Deutsche. Ia. mehr noch, eine Berlinerin. Wenn ich
diex als ein M-etzr bezeichne, so mögen mir dos all» Sckiwaben verzei-
hen. die sich dies Plus zuschreiben. oder die deutschseiendsten Schwa-
tzen verzeihen " „Sie würden dir vor alleyi diest Wortbildung ver-
z<ihcn müsien. Vor allem. was meinft du von den Parcevals? Sind
es gute Leute?" Der FreunL lachte: „Du fragst. als ob es sich um
einen Duchlbindernreister handelte, der ins Kafino ausgenommen wer-
den soll Gute Leute. Wo denkst du hirP Damit mißt man die
Parcevals nicht. Eut. gut. übrigens der Alte ist tot. seit anderthalb
Iahren etwa oder smdi: ich entsinne mich noch; es war ein grotzes
Bcgräbnis. wie die Berliner sagen, eme große Leichc mit chambre
ardente und Palmenküeln und die Studiosi architecturae mit Fah-
nen und Schlägern." „Warum die Architekten?" »Er war cin gro-
ßes L'cht in der Wissenschaft. in der MafferbaukunLe. dkdurch hat er
Karriere gemacht. ein Rcchncr comme il faut, der im Nu wutzte: ein
Eistnbahnzug von der Schwere äinss Eebirgszuges braucht 100 000
Eisenstangen oon anderthalb Zoll Dicke und kostet 23 Millionon "
„Mark?" „Ie nachdem. Am liebsten Täler. Uobrigens kenne ich
sie, d. h. eigentlich kenne ich sie nicht. aber ich kenne sie doch. und
wenn du heute den Vall mitmachst stelle ich dich vor. Es sind inter-
ressante Damen. odex man känn sie wenisstens dafür gelten laffen;
sehr belesen «nd wissen alles. Eigentlich, glaube ich. wisstn sie nichts,
aber es sieht doch so aus. als wüßten sie alles. Sie wiffen immer.
was in der Zeikmg sstht. und sind klug genug, nur aparte Zeitungen
zu lesen." „Wie das? „Run. sie werden nie sagen: die „Kreuzzei-
tung" bestätigt es. oder die Kölnische lNationalj-Zsitung schrieb in oori-
gcr Woche schon, sie sagen nur: i.n „Verlingste Tidende" stand rreulich,
oder die „Fanfulla" berichtete vorige Mäch's schon." „Ist Las gesucht.
geziert?" „Ich glaube. nein. oder ^doch nur halb. Äll das mackt fich
bei ihnen ganz natürlich. sie haben etwas Kosmopolitisches. und als
sie mcrkten. dätz es den Leuten imponierte. waren sie klug genug. sich
ein System daraus zu machen. Und nach dem leben sie nun. Es sind
eigene Menschen " ..Slber doch im Euten?" „Was heitzt im Guten?

Ia, nein. Nun. du wirst je selber sohen. Ick hole dich gleich nach
Zleun ab. Eher beginnt es nicht." Und danach trennten sie sich. ^

*) Diest unvollendete Novelle ist dem bei S. Fischer.Berlin er-
schienenen Fontano- Buch cntnoinmen.

Fontane
 
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