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Das Buch für Alle.
Charles ist an der Schwindsucht in seinem Veit ge-
storben.
Der italienische Löwenbändiger Upilio Faiinali (ge-
boren am 25. August 1826 zu Groparello bei Pia-
cenza, lebt jetzt in Pontenure bei Florenz), hatte einst
in Brüssel die Konkurrenz des deutschen Menagerie-
besitzers Schmidt auszuhalten. Um diesen zu über-
trumpfen, ging Faimali eines Tages in den Käfig eines
zehn Jahre alten undrefsirten Löwen, der nur seiner
gewaltigen Formen und prächtigen Mähne wegen ge-
zeigt wurde. Das Thier ging sofort zum Angriff über
und schlug den Italiener zu Boden. Dieser konnte sich
jedoch mit Hilfe der Bediensteten aus dem Käfig retten.
Faimali war wüthend. Es gelang ihm, eine starke
eiserne Kette um ein Bein des Löwen zu schlingen und
diesen an das Gitter des Käfigs zu fesseln. Zum
zweiten Male betrat er den Raum, prügelte das Thier
furchtbar und wagte es dann, dasselbe rittlings zu be-
steigen und es unter dem starken Druck seiner Kniee
zu beugen. Infolge der Aufregung und des Tatzen-
schlages verlor Faimali zwar alle seine Haare, dafür
hatte er aber in Zukunft den sanftmüthigsten Löwen,
den man sich denken kann.
Am 7. April 1863 führte Faimali zu Böthune
dem Publikum zum ersten Male einen neudressirten
Tiger vor. Tas Thier arbeitete ganz brav, als plötz-
lich ein unbesonnener Mensch ein Stück Fleisch in den
Käfig warf. Der Bändiger schob das Fleisch mit dem
Fuße wieder hinaus, denn es ist gefährlich, einem wilden
Thiere Fleisch zu geben, wenn es dem Willen des
Bändigers gehorchen soll. Aber der Tiger hatte schon
den Leckerbissen gewittert, und wüthend über das Vor-
gehen seines Herrn, stürzte er sich auf denselben und
riß ihm mit einem Schlag die halbe Kopfhaut vom
Schädel los. Faimali stürzte zu Boden, verlor aber
nicht die Geistesgegenwart, sondern nahm alle seine
Kraft zusammen, legte seine Hände um die Kehle der
Bestie und warf diese zurück. Doch dieses Kraftstück
befreite ihu nicht, denn zwischen ihm und der Thür
des Käfigs lag der Tiger, durch den Geschmack des
Blutes wilder denn je. Da kam Faimali ein ver-
zweifelter Gedanke. Er reichte dem Thiere seinen linken
Arm zum Fräße. Und während der Tiger das Fleisch
von demselben riß, schlug ihn Faimali mit der blei-
gefüllten Dressurpeitsche so mächtig auf die Schnauze,
daß er betäubt niederfiel, und der Bändiger sich retten
konnte. Faimali arbeitete später noch oft mit dem
Tiger, niemals aber hat dieser wieder einen Angriff
gewagt.
Dieser Bändiger war auch einer der Ersten, welche
ihren Kopf in den Rachen der Löwen steckten. Dieses
Kunststück ist nicht so gefährlich, als es den Anschein
hat, denn noch niemals hat ein Thier zugebissen. Wohl
aber können durch Nebenumständc Unglücksfalle Vor-
kommen. Faiinali steckte eines Tages in Sutri in !
Italien seinen Kopf in den Rachen einer Löwin, als I
das Stachelschwein eines benachbarten Käfigs mit dem
Schwänze der Löwin, der zufällig durch das Gitter
hing, zu spielen anfing. Die Löwin spürte einen Kitzel,
drückte mit den Zähnen und brachte dem Bändiger
zwei tiefe Wnuden in die Wangen bei.
Einen ähnlichen Fall kann ich aus eigener An-
schauung erzählen. Miß Senide (Henriette Willardt,
geboren am 9. November 1866 in Wien) befand sich
im Sommer 1887 in Edinburgh, wo sie sich Reklame-
photographien machen lassen wollte. Die Bändigerin
steckte den Kopf in den Rachen eines mächtigen Löwen
und der Photograph seine Platten in den Apparat.
Da es auf der Bühne, auf welcher der Käfig stand,
etwas dunkel war, versuchte der Photograph, die Sce-
nerie mit Kalklicht zu erhellen Als der grelle Strahl
die Augen des Thiercs traf, senkte dieses erschreckt die
mächtigen Kiefern, und sosort entquoll ein Blutstrom
dem Rachen. Wir schlugen dem Photographen den
Apparat aus der Hand, worauf sich der Löwe sofort
wieder beruhigte und die Kiefern hob. Miß Senide
hatte tiefe Wunden im Nacken und an der Brust da-
vongetrageu und mußte wochenlang das Bett hüten.
Diese Thierbändigerin, deren Bildniß wir neben-
stehend unserem Aufsatze beigeben, ist übrigens eine
der interessantesten Gestalten aus der Welt der fahren-
den Leute. Prachtvoll gewachsen und schön vrn Ge-
sicht, besitzt sie einen unerschütterlichen Muth und eine
wahrhaft rührende Liebe zu ihren Thieren. Ter Trieb,
Thiere zu zähmen und dieselben ihrem Willen zu unter-
werfen, trat bei ihr schon in den Kinderjahren mit
der Hartnäckigkeit eines angeborenen Charakterzuges
auf. Nicht Abeuteurerlust oder Noth hat sie dazu ge-
trieben, Thierbändigerin zu werden, sondern eine nicht
zu unterdrückende Leidenschaft für die wilden Bestien,
die sie verhätschelt, und die ihr dafür gehorchen wie
die Hündchen.
Ain 12. Dezember 1883 trat sie zum ersten Male
im Cirkus Renz in Berlin auf mit zwei Berbcrlöwen,
einen: schwarzen Bären und einem Leoparden. Ihre
Methode der „zahmcn Dressur" war zugleich ein Sieg !
der deutschen Abrichtungskunst über die französische, !
welche über hundert Jahre in der Menageriewelt >
geherrscht hatte. Senide stellt alle französischen Bän-
diger in den Schatten; sie führt keine wilden Scenen
auf, bei denen die Thiere brüllen und den Bändiger
zerreißen zu wollen scheinen, sondern tändelt mit
ihnen wie mit Schoßhündchen, und ihre Sicherheit
verbannt bei den Zuschauern jedes Angstgefühl. Frei-
lich, nicht umsonst hat sie ihre Triumphe in allen
Ländern Europa's und ihre Medaillen errungen.
Außer dem oben erzählten Abenteuer ist es ihr noch
wiederholt Passirt, von ihren Lieblingen angefallen
und gebissen zu werden; nie aber waren die erhaltenen
Wunden so schwer, nm sie zu entstellen oder sie zur
Aufgabe ihres Gewerbes zu zwingen.
Merkwürdig ist es, daß der jungen Dame die
Kunst, wilde Thiere zu bändigen, keineswegs durch
Vererbung überkommen ist. Ihre Eltern waren schlichte
Kaufleute in Wien. Sie war das einzige Kind, ein
nach dem Tode des Vaters von der Mutter etwas
verzogenes Mädchen, das es in Halle a. S., wo es
einem Institute zur weiteren Erziehung übergeben
wurde, durchzusetzen wußte, daß man ihr Hunde und
einen Papagei ließ.
Jin Alter von 15 Jahren kehrte sie aus der Pension
nach Wien zurück. Ihre Leidenschaft für Thiere hatte
aber eher zu-, denn abgenommen und täglich wurde
die Mutter von der Tochter bestürmt, ihr doch wilde
Thiere zu kaufen. Nach langem Bitten entschloß sich
die Mutter endlich, den Wunsch der Tochter zu erfüllen,
in der stillen Hoffnung, daß die erste Attacke, die erste
Miß Senide.
Verwundung ihr eigensinniges Kind wieder zur Vernunft
bringen würde. Sie fuhr mit Henriette nach Hamburg
und zwar zu dem Thierhändler Möller, wo die Tochter,
kaum angelangt, einrn kühnen Coup vollführte, der sie
dem ersehnten Ziele schnell nahe brachte; sie wußte
einen Thierwächter Möllcr's zu bewegen, ihr Zutritt
in einen Käfig zu verschaffen, der eine Gruppe von
8 Wölfen, 2 Bären und 2 Hyänen barg. Die schnell
herbeigerufene Mutter fand zu ihrem Entsetzen das
16jährige Mädchen in der unheimlichen Gesellschaft
der Bestien, die sich der ungewohnten Erscheinung gegen-
über glücklicher Weise ruhig verhielten; als nun die
Tochter erklärte, nickt eher den Käsig verlassen zu
wollen, bis Frau Willardt ihre Zustimmung zu der
gewählten Laufbahn gegeben, da konnte das mütter-
liche Herz nicht mehr widerstehen und unter Thränen
wurde das Abkommen besiegelt.
Frau Willardt kaufte ihrer Tochter zwei Berber-
löwen, einen schwarzen Bären und einen Leoparden,
welcher Gruppe Henriette in circa 5 Monaten nach
neuer Methode die zahme Dressur beibrachte. Sie
debütirte dann mit derselben, wie bereits erwähnt,
zum ersten Male am 12. Dezember 1883 im Cirkus
Renz zu Berlin, ging dann zu Herzog nach Halle, wo
sie zwei Jahre vorher noch das Töchterinstitut besucht,
im Oktober 1884 zum Cirkus Suhr nach Oesterreich,
und von da nach Lissabon. Am 3. Februar 1885
schiffte sich Miß Senide auf dem Dampfer „Herum"
nach Portugal ein. Die Fahrt war auf 5 Tage berechnet,
doch ein fürchterliches Unwetter ließ das Schiff erst
nach 14 Tagen landen. Während der Reise niußte
der Dampfer Ballast auswerfen, und der Kapitän be-
stimmte dazu den Raubthierkäsig. Bereits hatte er
den Befehl gegeben, die Ketten zu lösen, als der Schwur
der Thierbändigerin, ihren Lieblingen in's Meer nach-
zuspcingen, ihn von seinem Vorhaben Abstand nehmen
ließ.
«rst 2.
Von Lissabon ging Miß Senide nach Oporto,
Madrid, Barcelona, Bordeaux und Paris. Dort passirte
es ihr, daß ihr Lieblingslöwe zum Schluß der Vor-
stellung ihr den Ausgang versperrte. Das sonst brave
Thier ging drohend auf die Herrin zu, sobald sie sich
der Thüre näherte. Dies war um so unverständlicher,
als gerade dieser Löwe so sehr an ihr hing, daß er,
wenn die Herrin krank war, und er sie einige Tage nicht
zu sehen bekam, Speise und Trank verschmähte, auch
vertheidigte er sie immer gegen die Löwin. Er war
so anhänglich, daß, sobald die Herrin in die Nähe des
Käfigs trat, und Jemand Miene machte, sie anzurühren,
er wie wahnsinnig gegen die Gitter sprang und drohende
Blicke auf den vermeintlichen Feind warf. Als nun
Senide sich an jenem Abend zum dritten Male der
Thüre näherte, sprang er auf sie zu, riß die Bän-
digerin zu Boden, biß sie zuerst in den linken Fuß
und warf sich dann grollend und zähnefletschend
über das Mädchen, seine mächtigen Tatzen auf ihre
Brust legend. „Ich hörte meine Mutter laut auf-
schreien und dachte in dieser Sekunde, daß ich Wohl
kaum wieder aufkommen dürfte," so erzählte mir Miß
Senide, „aber es war kein Gefühl der Angst, das ich
in dem Moment empfand, obwohl ich in einer ein-
zigen Sekunde mein ganzes Leben wieder sah; ja, ich
dachte in diesem Moment sogar an die Zeit, während
welcher ich noch in Halle im Pensionat war. Be-
wußtlos war ich nicht, denn ich erinnere mich sehr
gut, wie des Löwen Augen wie Phosphor über mir
leuchteten. Auf einmal veränderte sich sein Gesicht.
Er, der noch eben so wild und drohend erschien, leckte
mir bittend das Gesicht und schmiegte sich an mich.
Da stürzten mir die Thränen aus den Augen. Ich
legte meine Arme um ihn und küßte ihn, denn der
Arme sah sein Vergehen ein und bat um Verzeihung.
Und dabei sah er mich so flehend an und schmiegte
sich so Vergebung suchend an mich! Ich hielt mich
an seiner Mähne fest, um wieder hoch zu kommen,
denn mein durchbisfener Fuß versagte den Dienst. Es
ist dies das einzige Mal, daß dieser Löwe mich attakirt
hat."
Von Paris aus machte Senide noch eine erfolgreiche
Rundreise durch England, um im Monat Oktober nach
Rußland zu fahren, wo sie zwei Monate im Cirkus
Ciniselli in St. Petersburg engagirt war.
Sie arbeitete damals mit einem Paniher, einer
Löwin und einem Bären, hatte aber noch einen kurz
vor der Abreise in England neuangekanften männlichen
Löwen, der noch nicht dressirt war. Direktor Nikitin
kam nach Petersburg und engagirte sie für den Monat
Dezenrber nach Moskau. Daselbst arbeitete sie fünf
Monate mit größtem Erfolge, auch kaufte sie dort von
der Menagerie Winkler zwei große, sehr schöne, jedoch
noch vollständig undressirte Löwen und führte sie keiner
Wette zufolge) schon am neunten Tage dem Publikum
vor, vereinigt mit den anderen Thieren. Während
dieser neun Tage ist Senide kaum einige Stunden vom
Käfig weggcwesen, um die Thiere nur einigermaßen
zu gewöhnen, denn was es heißen will, fremde, schon er-
wachsene Thiere mit verschiedenen anderen Rassen zu-
sammen zu geben, kann sich selbst ein Laie vorstellcn.
In Kiew, am 3. Februar 1890 und gerade zum
Benefiz des Direktors Nikitin, hatte Senide noch einen
Unglücksfall, der leicht schlimmer hätte ausfallcn können.
Sie hatte an diesem Abend gerade ein neues himmel-
blaues Kostüm angelegt, dessen Helle Farbe durch das
elektrische Licht noch gehoben wurde; „Nero", ihr bester
Löwe, war schlechter Laune und verweigerte vollkommen
den Gehorsam. Bein: Feuerreifen sprang er links ab
und weigerte sich, zurück an seinen Platz zu springen.
Der Fcuerreifen ist bekanntlich an einer Seite im
Gitter eingehakt, während die Bändigerin den Reifen
am Griff hält. Hätte sie ihm nun seinen Ungehorsam
durchgehen lassen, so mußte sie den Feucrreifen her-
ausnehmen und dann Hütte sie der Löwe unfehlbar im
Rücken oder an der Seite gepackt. Da sieht sie, wie
der Löwe zum Sprung ansetzt; er springt auf, packt
Senide am Leib und schleudert sie auf die andere
Seite des Käfigs. Instinktiv hält sie den Blciknvpf
der Peitsche krampfhaft fest, und als der Löwe zum
zweiten Male springt, schlägt die am Boden liegende
Bändigerin mit aller Kraft, deren sie fähig war, ihm
gerade zwischen die Augen und schreit dabei „Pascholl,
Nero!" aber so laut und unnatürlich, daß sie die eigene
Stimme nicht erkannte. Das war Alles das Werk einer
Viertelminute, Direktor Akim Nikitin, der Athlet Emil
Voß und der Artist Paschinka waren in die Manage
geeilt und hielten den Löwen, der wie wahnsinnig immer
wieder auf die Herrin stürzte, mit eisernen Stangen
zurück. Glücklich kam Senide aus dem Käfig, doch
als sie sah, daß das Kostüm noch einigermaßen hielt,
stieg das kühne Weib zum zweiten Mal in den Käfig,
um „Nero" zu zeigen, wer Herrin und Gebieterin ist.
Drei schmerzhafte Wunden blieben ihr zur Erinnerung
an diesen Abend.
Seuide's Gruppe besteht jetzt aus dem Tiger „Lucie",
dem Panther „Cäsar", den Löwen „Nero" und „Dick
Thornton", der Löwin „Rosa", dem Bären „August",
Das Buch für Alle.
Charles ist an der Schwindsucht in seinem Veit ge-
storben.
Der italienische Löwenbändiger Upilio Faiinali (ge-
boren am 25. August 1826 zu Groparello bei Pia-
cenza, lebt jetzt in Pontenure bei Florenz), hatte einst
in Brüssel die Konkurrenz des deutschen Menagerie-
besitzers Schmidt auszuhalten. Um diesen zu über-
trumpfen, ging Faimali eines Tages in den Käfig eines
zehn Jahre alten undrefsirten Löwen, der nur seiner
gewaltigen Formen und prächtigen Mähne wegen ge-
zeigt wurde. Das Thier ging sofort zum Angriff über
und schlug den Italiener zu Boden. Dieser konnte sich
jedoch mit Hilfe der Bediensteten aus dem Käfig retten.
Faimali war wüthend. Es gelang ihm, eine starke
eiserne Kette um ein Bein des Löwen zu schlingen und
diesen an das Gitter des Käfigs zu fesseln. Zum
zweiten Male betrat er den Raum, prügelte das Thier
furchtbar und wagte es dann, dasselbe rittlings zu be-
steigen und es unter dem starken Druck seiner Kniee
zu beugen. Infolge der Aufregung und des Tatzen-
schlages verlor Faimali zwar alle seine Haare, dafür
hatte er aber in Zukunft den sanftmüthigsten Löwen,
den man sich denken kann.
Am 7. April 1863 führte Faimali zu Böthune
dem Publikum zum ersten Male einen neudressirten
Tiger vor. Tas Thier arbeitete ganz brav, als plötz-
lich ein unbesonnener Mensch ein Stück Fleisch in den
Käfig warf. Der Bändiger schob das Fleisch mit dem
Fuße wieder hinaus, denn es ist gefährlich, einem wilden
Thiere Fleisch zu geben, wenn es dem Willen des
Bändigers gehorchen soll. Aber der Tiger hatte schon
den Leckerbissen gewittert, und wüthend über das Vor-
gehen seines Herrn, stürzte er sich auf denselben und
riß ihm mit einem Schlag die halbe Kopfhaut vom
Schädel los. Faimali stürzte zu Boden, verlor aber
nicht die Geistesgegenwart, sondern nahm alle seine
Kraft zusammen, legte seine Hände um die Kehle der
Bestie und warf diese zurück. Doch dieses Kraftstück
befreite ihu nicht, denn zwischen ihm und der Thür
des Käfigs lag der Tiger, durch den Geschmack des
Blutes wilder denn je. Da kam Faimali ein ver-
zweifelter Gedanke. Er reichte dem Thiere seinen linken
Arm zum Fräße. Und während der Tiger das Fleisch
von demselben riß, schlug ihn Faimali mit der blei-
gefüllten Dressurpeitsche so mächtig auf die Schnauze,
daß er betäubt niederfiel, und der Bändiger sich retten
konnte. Faimali arbeitete später noch oft mit dem
Tiger, niemals aber hat dieser wieder einen Angriff
gewagt.
Dieser Bändiger war auch einer der Ersten, welche
ihren Kopf in den Rachen der Löwen steckten. Dieses
Kunststück ist nicht so gefährlich, als es den Anschein
hat, denn noch niemals hat ein Thier zugebissen. Wohl
aber können durch Nebenumständc Unglücksfalle Vor-
kommen. Faiinali steckte eines Tages in Sutri in !
Italien seinen Kopf in den Rachen einer Löwin, als I
das Stachelschwein eines benachbarten Käfigs mit dem
Schwänze der Löwin, der zufällig durch das Gitter
hing, zu spielen anfing. Die Löwin spürte einen Kitzel,
drückte mit den Zähnen und brachte dem Bändiger
zwei tiefe Wnuden in die Wangen bei.
Einen ähnlichen Fall kann ich aus eigener An-
schauung erzählen. Miß Senide (Henriette Willardt,
geboren am 9. November 1866 in Wien) befand sich
im Sommer 1887 in Edinburgh, wo sie sich Reklame-
photographien machen lassen wollte. Die Bändigerin
steckte den Kopf in den Rachen eines mächtigen Löwen
und der Photograph seine Platten in den Apparat.
Da es auf der Bühne, auf welcher der Käfig stand,
etwas dunkel war, versuchte der Photograph, die Sce-
nerie mit Kalklicht zu erhellen Als der grelle Strahl
die Augen des Thiercs traf, senkte dieses erschreckt die
mächtigen Kiefern, und sosort entquoll ein Blutstrom
dem Rachen. Wir schlugen dem Photographen den
Apparat aus der Hand, worauf sich der Löwe sofort
wieder beruhigte und die Kiefern hob. Miß Senide
hatte tiefe Wunden im Nacken und an der Brust da-
vongetrageu und mußte wochenlang das Bett hüten.
Diese Thierbändigerin, deren Bildniß wir neben-
stehend unserem Aufsatze beigeben, ist übrigens eine
der interessantesten Gestalten aus der Welt der fahren-
den Leute. Prachtvoll gewachsen und schön vrn Ge-
sicht, besitzt sie einen unerschütterlichen Muth und eine
wahrhaft rührende Liebe zu ihren Thieren. Ter Trieb,
Thiere zu zähmen und dieselben ihrem Willen zu unter-
werfen, trat bei ihr schon in den Kinderjahren mit
der Hartnäckigkeit eines angeborenen Charakterzuges
auf. Nicht Abeuteurerlust oder Noth hat sie dazu ge-
trieben, Thierbändigerin zu werden, sondern eine nicht
zu unterdrückende Leidenschaft für die wilden Bestien,
die sie verhätschelt, und die ihr dafür gehorchen wie
die Hündchen.
Ain 12. Dezember 1883 trat sie zum ersten Male
im Cirkus Renz in Berlin auf mit zwei Berbcrlöwen,
einen: schwarzen Bären und einem Leoparden. Ihre
Methode der „zahmcn Dressur" war zugleich ein Sieg !
der deutschen Abrichtungskunst über die französische, !
welche über hundert Jahre in der Menageriewelt >
geherrscht hatte. Senide stellt alle französischen Bän-
diger in den Schatten; sie führt keine wilden Scenen
auf, bei denen die Thiere brüllen und den Bändiger
zerreißen zu wollen scheinen, sondern tändelt mit
ihnen wie mit Schoßhündchen, und ihre Sicherheit
verbannt bei den Zuschauern jedes Angstgefühl. Frei-
lich, nicht umsonst hat sie ihre Triumphe in allen
Ländern Europa's und ihre Medaillen errungen.
Außer dem oben erzählten Abenteuer ist es ihr noch
wiederholt Passirt, von ihren Lieblingen angefallen
und gebissen zu werden; nie aber waren die erhaltenen
Wunden so schwer, nm sie zu entstellen oder sie zur
Aufgabe ihres Gewerbes zu zwingen.
Merkwürdig ist es, daß der jungen Dame die
Kunst, wilde Thiere zu bändigen, keineswegs durch
Vererbung überkommen ist. Ihre Eltern waren schlichte
Kaufleute in Wien. Sie war das einzige Kind, ein
nach dem Tode des Vaters von der Mutter etwas
verzogenes Mädchen, das es in Halle a. S., wo es
einem Institute zur weiteren Erziehung übergeben
wurde, durchzusetzen wußte, daß man ihr Hunde und
einen Papagei ließ.
Jin Alter von 15 Jahren kehrte sie aus der Pension
nach Wien zurück. Ihre Leidenschaft für Thiere hatte
aber eher zu-, denn abgenommen und täglich wurde
die Mutter von der Tochter bestürmt, ihr doch wilde
Thiere zu kaufen. Nach langem Bitten entschloß sich
die Mutter endlich, den Wunsch der Tochter zu erfüllen,
in der stillen Hoffnung, daß die erste Attacke, die erste
Miß Senide.
Verwundung ihr eigensinniges Kind wieder zur Vernunft
bringen würde. Sie fuhr mit Henriette nach Hamburg
und zwar zu dem Thierhändler Möller, wo die Tochter,
kaum angelangt, einrn kühnen Coup vollführte, der sie
dem ersehnten Ziele schnell nahe brachte; sie wußte
einen Thierwächter Möllcr's zu bewegen, ihr Zutritt
in einen Käfig zu verschaffen, der eine Gruppe von
8 Wölfen, 2 Bären und 2 Hyänen barg. Die schnell
herbeigerufene Mutter fand zu ihrem Entsetzen das
16jährige Mädchen in der unheimlichen Gesellschaft
der Bestien, die sich der ungewohnten Erscheinung gegen-
über glücklicher Weise ruhig verhielten; als nun die
Tochter erklärte, nickt eher den Käsig verlassen zu
wollen, bis Frau Willardt ihre Zustimmung zu der
gewählten Laufbahn gegeben, da konnte das mütter-
liche Herz nicht mehr widerstehen und unter Thränen
wurde das Abkommen besiegelt.
Frau Willardt kaufte ihrer Tochter zwei Berber-
löwen, einen schwarzen Bären und einen Leoparden,
welcher Gruppe Henriette in circa 5 Monaten nach
neuer Methode die zahme Dressur beibrachte. Sie
debütirte dann mit derselben, wie bereits erwähnt,
zum ersten Male am 12. Dezember 1883 im Cirkus
Renz zu Berlin, ging dann zu Herzog nach Halle, wo
sie zwei Jahre vorher noch das Töchterinstitut besucht,
im Oktober 1884 zum Cirkus Suhr nach Oesterreich,
und von da nach Lissabon. Am 3. Februar 1885
schiffte sich Miß Senide auf dem Dampfer „Herum"
nach Portugal ein. Die Fahrt war auf 5 Tage berechnet,
doch ein fürchterliches Unwetter ließ das Schiff erst
nach 14 Tagen landen. Während der Reise niußte
der Dampfer Ballast auswerfen, und der Kapitän be-
stimmte dazu den Raubthierkäsig. Bereits hatte er
den Befehl gegeben, die Ketten zu lösen, als der Schwur
der Thierbändigerin, ihren Lieblingen in's Meer nach-
zuspcingen, ihn von seinem Vorhaben Abstand nehmen
ließ.
«rst 2.
Von Lissabon ging Miß Senide nach Oporto,
Madrid, Barcelona, Bordeaux und Paris. Dort passirte
es ihr, daß ihr Lieblingslöwe zum Schluß der Vor-
stellung ihr den Ausgang versperrte. Das sonst brave
Thier ging drohend auf die Herrin zu, sobald sie sich
der Thüre näherte. Dies war um so unverständlicher,
als gerade dieser Löwe so sehr an ihr hing, daß er,
wenn die Herrin krank war, und er sie einige Tage nicht
zu sehen bekam, Speise und Trank verschmähte, auch
vertheidigte er sie immer gegen die Löwin. Er war
so anhänglich, daß, sobald die Herrin in die Nähe des
Käfigs trat, und Jemand Miene machte, sie anzurühren,
er wie wahnsinnig gegen die Gitter sprang und drohende
Blicke auf den vermeintlichen Feind warf. Als nun
Senide sich an jenem Abend zum dritten Male der
Thüre näherte, sprang er auf sie zu, riß die Bän-
digerin zu Boden, biß sie zuerst in den linken Fuß
und warf sich dann grollend und zähnefletschend
über das Mädchen, seine mächtigen Tatzen auf ihre
Brust legend. „Ich hörte meine Mutter laut auf-
schreien und dachte in dieser Sekunde, daß ich Wohl
kaum wieder aufkommen dürfte," so erzählte mir Miß
Senide, „aber es war kein Gefühl der Angst, das ich
in dem Moment empfand, obwohl ich in einer ein-
zigen Sekunde mein ganzes Leben wieder sah; ja, ich
dachte in diesem Moment sogar an die Zeit, während
welcher ich noch in Halle im Pensionat war. Be-
wußtlos war ich nicht, denn ich erinnere mich sehr
gut, wie des Löwen Augen wie Phosphor über mir
leuchteten. Auf einmal veränderte sich sein Gesicht.
Er, der noch eben so wild und drohend erschien, leckte
mir bittend das Gesicht und schmiegte sich an mich.
Da stürzten mir die Thränen aus den Augen. Ich
legte meine Arme um ihn und küßte ihn, denn der
Arme sah sein Vergehen ein und bat um Verzeihung.
Und dabei sah er mich so flehend an und schmiegte
sich so Vergebung suchend an mich! Ich hielt mich
an seiner Mähne fest, um wieder hoch zu kommen,
denn mein durchbisfener Fuß versagte den Dienst. Es
ist dies das einzige Mal, daß dieser Löwe mich attakirt
hat."
Von Paris aus machte Senide noch eine erfolgreiche
Rundreise durch England, um im Monat Oktober nach
Rußland zu fahren, wo sie zwei Monate im Cirkus
Ciniselli in St. Petersburg engagirt war.
Sie arbeitete damals mit einem Paniher, einer
Löwin und einem Bären, hatte aber noch einen kurz
vor der Abreise in England neuangekanften männlichen
Löwen, der noch nicht dressirt war. Direktor Nikitin
kam nach Petersburg und engagirte sie für den Monat
Dezenrber nach Moskau. Daselbst arbeitete sie fünf
Monate mit größtem Erfolge, auch kaufte sie dort von
der Menagerie Winkler zwei große, sehr schöne, jedoch
noch vollständig undressirte Löwen und führte sie keiner
Wette zufolge) schon am neunten Tage dem Publikum
vor, vereinigt mit den anderen Thieren. Während
dieser neun Tage ist Senide kaum einige Stunden vom
Käfig weggcwesen, um die Thiere nur einigermaßen
zu gewöhnen, denn was es heißen will, fremde, schon er-
wachsene Thiere mit verschiedenen anderen Rassen zu-
sammen zu geben, kann sich selbst ein Laie vorstellcn.
In Kiew, am 3. Februar 1890 und gerade zum
Benefiz des Direktors Nikitin, hatte Senide noch einen
Unglücksfall, der leicht schlimmer hätte ausfallcn können.
Sie hatte an diesem Abend gerade ein neues himmel-
blaues Kostüm angelegt, dessen Helle Farbe durch das
elektrische Licht noch gehoben wurde; „Nero", ihr bester
Löwe, war schlechter Laune und verweigerte vollkommen
den Gehorsam. Bein: Feuerreifen sprang er links ab
und weigerte sich, zurück an seinen Platz zu springen.
Der Fcuerreifen ist bekanntlich an einer Seite im
Gitter eingehakt, während die Bändigerin den Reifen
am Griff hält. Hätte sie ihm nun seinen Ungehorsam
durchgehen lassen, so mußte sie den Feucrreifen her-
ausnehmen und dann Hütte sie der Löwe unfehlbar im
Rücken oder an der Seite gepackt. Da sieht sie, wie
der Löwe zum Sprung ansetzt; er springt auf, packt
Senide am Leib und schleudert sie auf die andere
Seite des Käfigs. Instinktiv hält sie den Blciknvpf
der Peitsche krampfhaft fest, und als der Löwe zum
zweiten Male springt, schlägt die am Boden liegende
Bändigerin mit aller Kraft, deren sie fähig war, ihm
gerade zwischen die Augen und schreit dabei „Pascholl,
Nero!" aber so laut und unnatürlich, daß sie die eigene
Stimme nicht erkannte. Das war Alles das Werk einer
Viertelminute, Direktor Akim Nikitin, der Athlet Emil
Voß und der Artist Paschinka waren in die Manage
geeilt und hielten den Löwen, der wie wahnsinnig immer
wieder auf die Herrin stürzte, mit eisernen Stangen
zurück. Glücklich kam Senide aus dem Käfig, doch
als sie sah, daß das Kostüm noch einigermaßen hielt,
stieg das kühne Weib zum zweiten Mal in den Käfig,
um „Nero" zu zeigen, wer Herrin und Gebieterin ist.
Drei schmerzhafte Wunden blieben ihr zur Erinnerung
an diesen Abend.
Seuide's Gruppe besteht jetzt aus dem Tiger „Lucie",
dem Panther „Cäsar", den Löwen „Nero" und „Dick
Thornton", der Löwin „Rosa", dem Bären „August",