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422

„Z hab' d' größte Angſt, er thut sich 'was an !“
raunte sie jammernd. „Vorgestern is er z Haus 'kom-
men, um die Zeit, wo er hätt' im Dienſt sein müſſen,
ganz außer sich. So desſperat hat er ausg ſchaut, daß
mir's d’ Red’ verſchlagen hat vor Schrecken. ,„Jeſſes,
Herr Neumeier!" ſag’ i, „wie kommen denn Sie daher?
Und wie Sie ausſchau n! ~Ñ Is Ihnen was paſſiert?
mit Ye is witer air. gs " Mug! dahei
biſſel nit recht gut is mir. Ich hab' mich im Amt
krank g meld’'t.“ ~ „Jeſſes,“ sag i, „ſoll i Ihnen
ein' Thee kochen? Oder zum Doktor schicken?" Er
aber ſagt gar nix, sondern deut t nur immer mit m
Kopf Nein und geht in sei’ Zimmer.“

„Nun, und ~?“ fragte Fanny.

„Und seitdem is er nit mehr 'raus kommen," fuhr

die verängstigte Frau fort. „Kein Bisſſen 'geſſen, nix

'trunken wie Waſſer. Und 's Bett nit ang rührt. D'

ganze Nacht heut’ und gestern hat er Licht g'habt.
Ich hab’ alle Stund’ durchs Schlüsselloch 'reing schaut,
weil er mir 's Hereinkommen verboten hat. J bitt'
Ihnen, der Herr Neumeier, der ſonsſt d' Höflichkeit

ſelber is! Na, und heut’ früh hab' ich g ſeh'n, daß

L M mM!
der g'wiß 'was an! Und hab' nachdenkt, zu wem
ich gehn ſoll. – Verwandte hat er keine in Wien,
wenigstens weiß ich keine. – Ins Amt? — Da hätt'
ich ihm am End’ g'ſchad't. ~ Zu der Polizei?
Ja, was kann die Polizei da machen, wenn einer ſo
"was thun will? –~ Da ſind Sie mir eing fallen,
FJräul’'hn. –~ Ihr’ Adresſ’ hab’ ich g wußt, weil ich ja

mein’ Schani öfters hab' mit ein' Brieferl hersſchicken

müſſen. ~– Na, und wenn wer eine Macht über ihn
hat, ſo müſſen 's doch Sie ſein.“ .

Fanny hatte den Umhang, den sie bei Wirtschafts-
gängen umzunehmen pflegte und der daher in der Küche
hing, vom Nagel geriſſen, ihn eilig über die Schultern
geworfen und die Wohnungsthür geöffnet. .
„Geh'n wir!“ sagte sie. ]

„Aber Fräul'n !“ antwortete die Frau. „So ohne

? 11 . .

Hut. . f

„Soll ich erſt hineingehn, mein’ Hut holen, wenn
?emil hieleict ein Unglück g' ſchieht?“ fragte Fanny
neidend. ;
„Jeſſes na! Sie haben ja recht!“ jammerte die
Frau, während sie neben Fanny die Treppe hinabeilte.
„Nein, ſo was! Nein, so was!!‘

Fanny, der die Ungeduld in allen Adern pochte,
jubelte auf, als gerade, während sie in die Alſerſtraße
einbogen, ein Pferdebahnwagen daherkam. Er war
sc g k v nh but. U.
Stadt beſchäftigt waren und nun aus Hernals und
Oltakring, wo sie wohnten, zur Arbeit fuhren; aber
was lag ihr daran! Sie ſchwang ſich auf das Tritt-
brett und klammerte sich an einen ſtämmigen Burſchen
fest, der ſelbſt ſchon mehr an dem Wagen hing, als
er auf ihm ſtand. Sie wäre ſonſt herabgeſtürzt.

Der Tscheche wandte ſein Bulldoggengesicht zu ihr
herum und grinste: „Haben S’ ſchun recht, Fral’n!
Halten S’ Ihne nur feſt an. Jſe mir Vergniegen. “

„Jekus, Jekus !“ rief ein anderer ſpöttiſch. „Hate
den Wenzel Glick bei Weibsbilde! In alle Frieh
schon packen s' ihm z'sſamm' !“

; „Jse saubere Frauenzimme,“ . meinte ein dritter.

„Biſſel g'flickt im G sicht, abe ſunsſt nit übel.“
Fanny hörte das alles nicht. In ihr war nur ein

einziger, heißer Gedanke, der alle anderen verſchlang

wie eine lodernde Flamme: „Nur zu spät kommen
lot tuch nicht, Herrgott! Herrgott, nur nicht zu spät
ommen !"

Als sie in der Nähe der Wohnung Neumeiers von

dem Wagen absprang, fiel ihr ein, daß sie nicht würde
zu ihm hineinkönnen. Er kam wohl nicht öffnen,
wenn sie läutete, und die Vermieterin war mit dem
Wagen nicht mitgekommen.
_ Ungeduldig ſah sie ſich um. Da ſah sie die Frau
im Trab die Straße herablaufen. Sie hatte ver-
ſucht, mit dem Wagen Schritt zu halten, war jett
dunkelrot im Geſicht und ganz außer Atem.

„Da haben S’ den Schlüſsel, Fräul’n !“ stieß sie

hervor, als sie Fanny, die ihr entgegengeeilt war, er-
reicht hatte. „Läuten S' .. nit erſt an... s is eh
niemand z’ Haus. Und jett laufen S'! Ich...
ich kann nicht mehr. . ."

Fanny riß ihr den Schlüſſel aus der Hand und
flog davon. Das Haus wußte ſie, das Stockwerk auch,
aber die Thür nicht. Ein Junge, der im Hausflur
herumlungerte, wies ſie zurecht.

raſch aufgeſchloſsen . ..

Nun noch die Treppe . . .
Gott sei Dank, da war ſie.

Welches aber war ſein Zimmer? Rechts lag die
Küche, durch deren Glasthür der Vorraum ſsein Licht
empfing. Geradeaus wohnte wohl die Vermieterin.
Also die Thür links. ..

Sie drückte auf die Klinke, aber die Thür gab
nicht nach. Er hatte sich eingeſchloſſen.



...... O cÚU

Da s Buch füx Ulle.

In ihrem Herzen bäumte ſich etwas auf, wie ein
durchgehendes Pferd. Wenn sie doch zu spät gekommen
war! – Einen Augenblick stand ſie und ſtarrte das
Holz der Thür an, als wolle sie es mit ihren Blicken
durchbohren. Dann klopfte ſie stark an.

„Wer ist's?" antwortete es drinnen.

Fanny atmete tief zwei-, dreimal. „Gott sei Dank!“
jtibelte es in ihr. Dann erſt konnte sie antworten:

Ein Stuhl flog dumpf polternd zurück, dann wurde
die Thür ungestüm aufgeriſſen. Neumeier ſtand auf
der Schwelle. Er hob die Arme, als wolle er etwas
haſchen, ließ sie dann wieder ſinken und ſtammelte ver-
legen: „Guten Morg'n, Fräul’'n Fanny !“

Es war, als hätte die ungeheure Erregung dem
Mädchen ein paar Sinne mehr gegeben. Mit einem
tur rosen t: tz. qs h uu UttÑ:
Kleinste. Neumeiers eingefallenes Gesicht mit den
unordentlichen Bartſtoppeln auf den Wangen, ſeine
Augen, in denen die Verzweiflung brannte, sein zer-
drückter Anzug, aus dem er ſeit drei Tagen nicht her-
ausgekommen war, das unberührte Bett, die Briefe
auf dem Schreibtiſch, das Glas Wasser und das kleine
dunkle Fläschchen neben Evas Photographie auf dem
Nachttiſchchen ~ nichts entging ihr. Sie wußte ſofort,
daß sie in einer Viertelſtunde ſchon zu ſpät gekommen
wäre, und daß er, als er ihr ſo haſtig öffnete, infolge
tit! Sinnestäuſchung ihre Stimme für die Evas ge-

alten hatte. ; i

h s ihn reſolut in das Zimmer zurück, trat
über die Schwelle und ſchloß hinter sich die Thür.
Dann ſagte sie, ihm voll in die überwachten Augen
sehend: „Schämen Sie sich, Franz!!n. §

Er ließ den Kopf hängen wie ein armer Sünder.
„Wenn ... wenn Sie wüßten. . .“

Sie hörte nicht auf ihn. Mit einem raſchen Schritte
war sie an den Nachttiſch getreten und hatte das ſchwarze
Fläschchen weggerafft. Sie warf einen Blick auf die
Etikette, zog den Stöpſel heraus und goß den Inhalt
in den Waſſereimer neben dem Waſchtiſch. Dann warf
ſie das leere Fläſchchen in die Ecke, daß es klirrend
zerbrach, trat an den Schreibtiſch und warf einen Blick
auf die dort liegenden Briefe. „An Fräulein Eva
Rauſcher, “ las ſie auf einem. Den nahm ſie mit
raſchem Griff an sich und steckte ihn ein. Dann ſah
sie sich nach Neumeier um.

Der stand noch immer auf dem alten Fleck neben
der êhüs. ließ die Arme ſchlaff herabhängen und ſtarrte
u Boden.

Ö „Franz, “ ſagte Fanny weich. „Kommen Sie jett,
seßen Sie ſich her zu mir und erzählen S’, wie Sie
auf dieſen gottloſen Gedanken 'lommen sind. Wenn

Sie nit wollen, mach’ ich den Brief an meine Schweſter

auf, den ich da g funden hab'.
schön sauber drinstehen."n
Er antwortete nicht und rührte sich auch nicht. Da
trat sie auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und führte
ihn an das Sofa. Wie ein Kind drückte ſie ihn dar-
auf nieder, setzte ſich neben ihn und nahm ſeine heiße,
trockene, fiebernde Rechte zwiſchen ihre beiden Hände.
„Lieber Franz,“ sagte ſie, „wie kann man denn ſo
einem ſchlechten

Da wird ſchon alles

'was thun wollen wegen einem . . .
Frauenzimmer !“ : /

It cl it tie "Ess “ üs Lſltägi:
Hue der ganzen Sach’. Der Schlechte, der Ver-
brecher war ich. Und darum . . . nicht wegen der Eva. . .

das heißt, wegen ihr auch. Ich hab’ ſie ja unglücklich

gemacht! Ich hab' sie ja dazu [bracht, daß ſie

fich. .. ;

Er ſchluchzte trocken auf. Es klang so ſchauerlich,
als wolle etwas in ihm reißen, eine Ader brechen, und
das Blut müsſe ihm stromweis über die fieberwelken
Lippen ſchießen.

Fanny sah ihn erſchüttert und verſtändnislos an.
n

„Aber wie können Sie so reden, Franz!“ sagte sie
dann in jenem überredenden, eindringlichen Tone, in
dem sie zu ihrer kleinen Schwester zu ſprechen pflegte,
wenn sie krank war und die Arznei nicht nehmen wollte.
„Sie, der Betrogene, der im Stich G laſſene !“

Neumeier schüttelte den Kopf. „Ich bin's, der be-
trogen und im Stich g'laſſen hat, “ ſagte er dumpf.
„Si e hab' ich betrogen, Fanny !“ :

Das Mädchen wurde blutrot. Nicht, weil das ſtille,

wehmuütige Geheimnis ihres Herzens berührt worden

war. Zurückhaltung und falsche Scham gab es in

dieser Stunde nicht. Sie wurde vor Schrecken rot,

und vor Entrüſtung. Denn hellſeheriſch, wie dieser
entſetzliche Morgen sie gemacht hatte, durchſchaute ſie
mit einem Blicke das ganze Spiel ihrer Schweſter.
Sie erinnerte ſich auch der Befangenheit, die Franz in
den letzten Wochen ihr gegenüber an den Tag gelegt
hatte. Und das Herz ſchwoll ihr vor Verachtung und

hen. Erbärmliche! – Um ſich selbſt reinzuwaſchen,
hatte sie diesem armen Menschen . . . es war nicht aus-



Heft 18.

zudenken, wie gemein das war! Und wie ſie den Streich ;

von langer Hand vorbereitet hatte. ~ Natürlich, sie
hatte in beiden Fällen Vorteil davon, ob sie Franz
heiratete oder nicht. Jm einen Falle konnte sie ihn an
seinem wunden Gewisſſen um so bequemer gängeln,
im anderen hatte ſie einen trefflichen Vorwand, ihn
abzuſchütteln.

Fanny mußte einen Moment die Augen ſchließen,
so schauderte sie. Dann aber raffte ſie ſich auf. Sie
war ja nicht hergekommen, um ihren Empfindungen
freien Lauf zu laſſen. Um den armen Menſchen da
handelte es ſich, den ihre Schwester an den Rand des
Selbstmordes gebracht hatte.

Ihre erſte Empfindung war natürlich, ihm eine
große Rede zu halten, ihm zu beweiſen, welchem ſchnö-
den Ränkeſpiel er zum Opfer gefallen war, ihm zu
sagen, mit welcher teufliſchen Berechnung Eva ſchon
vor Wochen angefangen hatte, ihm das Gift in die
Adern zu flößen, jenes Gift, das ihn so marterte, daß
er beinahe mit einem anderen nachgeholfen hätte, um
das verhaßte Leben raſcher los zu werden. „Das wär'
aber ein Unsinn !“ sagte ſie sich dann. „Er möcht mich

gar nicht anhören. Selber aussprechen muß er ſich,

der arme Kerl. Der grausliche Wuſt muß aus ihm
heraus. Dann kann ich eher mit ihm reden.“

Um ihn zum Sprechen zu bringen, sagte ſie leiſe:
„Aber Franz ~ Sie haben ja gar nichts geſagt zu
mir, mir nichts verſprochen. “

Er lächelte grimmig. „Das stimmt. Versprochen
nix ,.. gsagt nix . . . und doch. Fanny, muß ich Ihnen
erſt sagen, wie wir zu einander gestanden sind, inner-
lich, ohne davon zu reden und uns 'was zu versſprechen?
Damals, wiſſen S' noh, wie wir uns auf dem
Kränzchen kennen g!'lernt und uns gleich so gut ver-
tragen haben? Und dann, wie ich Ihnen immer
aufg lauert hab’, wenn S einkaufen 'gangen ſind ?“
Er stockte einen Augenblick; Fanny saß mit heißen

Wangen und ſtarrte mit Augen, in denen Thränen
hingen, verwirrt in ihren Schoß. So heldenmütig ſie_

mit sich gerungen hatte, es ging nicht, so ganz aus
ſich herauszutreten, nur an den anderen zu denken.
se alten Wunden schmerzten bei der Berührung zu
ehr.

" Neumeier hatte keine Ahnung von dem Seelen-
zustand, in dem ſich seine Zuhörerin befand. Er war
ſo wenig im stande, daran zu denken, ob er ihr mit
seinen Worten das Herz zerriß, wie der überheizte
Dampfkessel, der endlich berstet, von dem Arbeiter weiß
und auf ihn Rückſicht nimmt, den der ausſtrömende
Dampf zu Tode brüht. Er hatte ſich diese Dinge in
den letzten achtundvierzig Stunden so unzähligemal
vorgeſagt, daß sich die Selbſtanklagen, die Selbstver-
s w
ret. und s ihm über die g!ttuU dn pres
da er einmal ins Reden geraten war. Er redete weiter;

unaufhaltsam, unerbittlich.

„Da hab’ ich die Eva fenncn g'lernt. Ihre Schön-

heit hat mich zum ſchlechten Kerl werden laſſen, grad’

wie ein anderer, der einen Sack Gold oder einen
großen Diamanten find't, an ihm zum ſchlechten Kerl

wird. Was sie an mir g funden hat, daß sie ſich ver

lobt hat mit mir, weiß ich nicht. Wir haben uns halt
verlobt, und ich war im siebenten Himmel. Eigentlich
hab’ ich mir 's eingeredet. Wohl war mir trotzdem
nit. Das dunkle G fühl, daß ich eine Schufterei be-
gangen hab’, bin ich selten los worden. Und dann
nur auf eine Stund’, auf ein' Tag. Und dabei
is 's mir immer vor'kommen ~ das hab' ich erſt jett
eing' sehn, wie alles vorbei war — als wär’ das, was
ich an der Eva eigentlich gern hab'’, doch nur, was
sie von dir hat, Fanny. Sie ſelber, das was an

ihr anders war, als an dir, war mir eher unheimlich.

Aber so 'was nimmt der Menſch nicht wahr, ſo lange

der verfluchte Rauſch ihm die Augen verblend't un s .

Hirn benebelt. So bin ich fortgetaumelt mit meinem

Glück in mir, was eigentlich nichts war als eine ſchöne.

kostbare Decke, unter der mein Elend versteckt war.
Mein Grau en vor der eigenen Schlechtigkeit und meine
Fremdheit zu meiner Braut.
getaumelt und hab’ ſie mitgerisſſen, durch einen gott-
verlaſſenen Brauſstand, schnurgerade los auf eine Ehe,
die noch mehr von Gott verlaſſen gewesen wär’. Dann
iſt die Eva draufkommen, wie's in mir ausſchaut, und
was zwiſchen dir und mir g'wesen iſt und noch hätte
ſein müſsſen, wenn nicht ... die Eva ſagt, wenn ſie
pit eſen z6 L rh pr eh.
~ Was die Arme durchg'macht hat, weiß Gott allein.
~ Jett hat sie sich in ihrer Verzweiflung dem reichen
alten Kerl an den Hals g'worfen, um nur loszukom-
men von mir. – Und jetzt sag selber, Fanny, ob ich
leben bleiben kann mit so einer Laſt auf [m Gewissen.

~ Dir hab’ ich 's Leben verbittert, die Eva aber hab

ich direkt zu Grund g'richt t. Es thut kein gut, wenn
ein neunzehnjährig's Mädel einn ſechzigjährigen Mann
heirat't. Und wenn das Mädel eine wie die Eva is,
ſchon gar nicht. Sie wird ein böſes End' nehmen,

Aber ich bin fort-
 
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