Seite 82
Blätter für Gemäldekunde.
Bd. VII.
Die zahlreichen Provinz-Museen Frank-
reichs sind für die Gemäldekunde immer
noch eine Art Neuland, das mancherlei
Schätze birgt. Der Mangel an geeigneten
einheimischen Kräften zur Hebung dieser
mannigfachen Reichtümer, die Abgeschie-
denheit vieler dieser Plätze und ihre
Entfernung von dem alles aufsaugenden
Zentrum Paris, mögen schuld daran sein,
daß die kunsthistorische Forschung dieses
reiche Material noch nicht genügend ver-
arbeitet hat.1) Für den Ausländer kommt
ein besonderes Moment hinzu, den Inhalt
dieser Museen interessant zu machen, die
Tatsache nämlich, daß viele dieser Bilder
einst die Kirchen und Galerien der Heimat
geschmückt haben. Man mag in den Ein-
leitungen der Kataloge nachlesen, mit wel-
chem Geschick die Vorstände der Provinz-
sammlungen im Jahre 1815 es verstanden
haben, ihre soeben erst aus konfisziertem
Kirchengut, Privateigentum von Emigrier-
ten und Kriegsbeute zusammengebrachten
Schätze den Reklamationen der alliierten
Mächte zu entziehen. Unter der lakoni-
schen Herkunftsbezeichnung .,Envoi de
l’Etat“, die auf so vielen wertvollen Ge-
mälden der Provinz-Sammlungen zu lesen
ist, verbergen sich daher Bilder aus aller
Herren Länder. Aus Deutschland insbe-
sondere kamen nach dem Frieden von
Tilsit eine große Menge Bilder nach
Paris, von denen Napoleon durch Dekret
vom 15. Februar 1811 209 an Provinz-
Galerien verteilen ließ.2)
Es kann natürlich nicht unsere Absicht
sein, den Inhalt der Sammlungen, die wir
besucht haben, methodisch durchzugehen,
sondern wir möchten nur auf weniger
bekannte Stücke, namentlich auch von
Meistern zweiten Ranges, aufmerksam
machen. Die Geschmacksrichtung jener
’) Trotz der Hinweise von W oermann (Zeit-
schrift f. bild. Kunst, 1893), Bredius (Oud
Holland, XXII. Bd.) und anderen. Vergl. auch
Clement de Ris, Les musees de province,
Paris 1861, und G o n s e, Les chefs d’oeuvres des
musees de France, Paris 1901.
2) 35 kamen allein nach Caen : G. M e n e g o z,
Catalogue du Musee de Caen 1907.
Zeit bringt es mit sich, daß die Manie-
risten, die Caravaggio - Schule und die
Bolognesen mit ihrem französischen An-
hang stark vertreten sind, während die
Primitiven fast gänzlich fehlen.
I. NANCY.
Das elegante Nancy, die Geburtsstadt
Callot's und des ihm geistesverwandten
Karikaturisten Grandville, besitzt noch kein
Museums-Gebäude, sondern die Gemälde
und sonstigen Kunstwerke, rund 800 Num-
mern, darunter zahlreiche moderne Bilder,
sind in 10 großen Sälen des Stadthauses
aufbewahrt.1) Gleich im ersten Saale nimmt
ein kolossales Breitbild aus Ru b e ns'
Frühzeit (breit 6*80, hoch 4.20 m; siehe
die Abbildung), die um 1604 in Mantua ge-
malte „Transfiguration“, den Blick ge-
fangen. Befremdet steht man zunächst vor
dieser Leinwand. Gewaltsam in der Erfin-
dung und roh im Kolorit, das vorwiegend
braune und schwärzliche Töne zeigt, ohne
vermittelnde Übergänge, enthält dies „gran-
diose“ Werk doch schon alle Keime der
Entwicklung des späteren Rubens, noch
aber sind die verschiedenartigsten italieni-
schen Einflüsse in wilder Gärung begriffen.
Man ist überrascht, den jungen Flamen
hier auf den Spuren Raffaels zu sehen,
dem die wichtigsten Motive der Kompo-
sition entlehnt sind. Daneben macht sich
Tintorettos Einfluß am stärksten geltend,
namentlich in der Landschaft mit ihren
grellen streifigen Lichtern.
Der Zufall will, daß in der Nähe des
jungen Rubens eine „Verkündigung“ von
seinem Kollegen am Mantuaner Hofe, dem
jungen Franz Pourbus II., hängt. Es
ist gleichfalls eine „grande machine“ (breit
2.70, hoch 4.12 m), signiert:
F. PORBVS FECIT ET EX PARTE
DEDIT.
AN. SAL. MVICXIX.
Das Bild ist also eines seiner letzten Werke
(der Künstler ist gestorben 1622) und muß
in Paris gemalt worden sein. Wie so ganz
>) Anonymer Katalog von 1909.
Blätter für Gemäldekunde.
Bd. VII.
Die zahlreichen Provinz-Museen Frank-
reichs sind für die Gemäldekunde immer
noch eine Art Neuland, das mancherlei
Schätze birgt. Der Mangel an geeigneten
einheimischen Kräften zur Hebung dieser
mannigfachen Reichtümer, die Abgeschie-
denheit vieler dieser Plätze und ihre
Entfernung von dem alles aufsaugenden
Zentrum Paris, mögen schuld daran sein,
daß die kunsthistorische Forschung dieses
reiche Material noch nicht genügend ver-
arbeitet hat.1) Für den Ausländer kommt
ein besonderes Moment hinzu, den Inhalt
dieser Museen interessant zu machen, die
Tatsache nämlich, daß viele dieser Bilder
einst die Kirchen und Galerien der Heimat
geschmückt haben. Man mag in den Ein-
leitungen der Kataloge nachlesen, mit wel-
chem Geschick die Vorstände der Provinz-
sammlungen im Jahre 1815 es verstanden
haben, ihre soeben erst aus konfisziertem
Kirchengut, Privateigentum von Emigrier-
ten und Kriegsbeute zusammengebrachten
Schätze den Reklamationen der alliierten
Mächte zu entziehen. Unter der lakoni-
schen Herkunftsbezeichnung .,Envoi de
l’Etat“, die auf so vielen wertvollen Ge-
mälden der Provinz-Sammlungen zu lesen
ist, verbergen sich daher Bilder aus aller
Herren Länder. Aus Deutschland insbe-
sondere kamen nach dem Frieden von
Tilsit eine große Menge Bilder nach
Paris, von denen Napoleon durch Dekret
vom 15. Februar 1811 209 an Provinz-
Galerien verteilen ließ.2)
Es kann natürlich nicht unsere Absicht
sein, den Inhalt der Sammlungen, die wir
besucht haben, methodisch durchzugehen,
sondern wir möchten nur auf weniger
bekannte Stücke, namentlich auch von
Meistern zweiten Ranges, aufmerksam
machen. Die Geschmacksrichtung jener
’) Trotz der Hinweise von W oermann (Zeit-
schrift f. bild. Kunst, 1893), Bredius (Oud
Holland, XXII. Bd.) und anderen. Vergl. auch
Clement de Ris, Les musees de province,
Paris 1861, und G o n s e, Les chefs d’oeuvres des
musees de France, Paris 1901.
2) 35 kamen allein nach Caen : G. M e n e g o z,
Catalogue du Musee de Caen 1907.
Zeit bringt es mit sich, daß die Manie-
risten, die Caravaggio - Schule und die
Bolognesen mit ihrem französischen An-
hang stark vertreten sind, während die
Primitiven fast gänzlich fehlen.
I. NANCY.
Das elegante Nancy, die Geburtsstadt
Callot's und des ihm geistesverwandten
Karikaturisten Grandville, besitzt noch kein
Museums-Gebäude, sondern die Gemälde
und sonstigen Kunstwerke, rund 800 Num-
mern, darunter zahlreiche moderne Bilder,
sind in 10 großen Sälen des Stadthauses
aufbewahrt.1) Gleich im ersten Saale nimmt
ein kolossales Breitbild aus Ru b e ns'
Frühzeit (breit 6*80, hoch 4.20 m; siehe
die Abbildung), die um 1604 in Mantua ge-
malte „Transfiguration“, den Blick ge-
fangen. Befremdet steht man zunächst vor
dieser Leinwand. Gewaltsam in der Erfin-
dung und roh im Kolorit, das vorwiegend
braune und schwärzliche Töne zeigt, ohne
vermittelnde Übergänge, enthält dies „gran-
diose“ Werk doch schon alle Keime der
Entwicklung des späteren Rubens, noch
aber sind die verschiedenartigsten italieni-
schen Einflüsse in wilder Gärung begriffen.
Man ist überrascht, den jungen Flamen
hier auf den Spuren Raffaels zu sehen,
dem die wichtigsten Motive der Kompo-
sition entlehnt sind. Daneben macht sich
Tintorettos Einfluß am stärksten geltend,
namentlich in der Landschaft mit ihren
grellen streifigen Lichtern.
Der Zufall will, daß in der Nähe des
jungen Rubens eine „Verkündigung“ von
seinem Kollegen am Mantuaner Hofe, dem
jungen Franz Pourbus II., hängt. Es
ist gleichfalls eine „grande machine“ (breit
2.70, hoch 4.12 m), signiert:
F. PORBVS FECIT ET EX PARTE
DEDIT.
AN. SAL. MVICXIX.
Das Bild ist also eines seiner letzten Werke
(der Künstler ist gestorben 1622) und muß
in Paris gemalt worden sein. Wie so ganz
>) Anonymer Katalog von 1909.