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Burckhardt, Jacob; Dürr, Emil [Hrsg.]
Vorträge 1844 - 1887 — Basel, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.30685#0144
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Was Goethe nun vom Gang der Handlung sagt, stimmt nicht völlig
mit dem erhaltenen, freilich sehr dürftigen Scenarium. Er selber hatte
nicht nötig, sich künstlich in die Gestalt des Odysseus hinein zu ver*
setzen; ganz von selbst empfand er sich als den, welcher auf der Reise
schon hie und da schmerzliche Neigungen rege gemacht, und zugleich
als den wundervollen Fabulanten, der bei unerfahrenen Hörern als ein
Halbgott, bei gesetztern Leuten etwa als ein Aufschneider galt. Eine
Sage des spätern Altertums, erhalten in einem Fragment des Aristoteles
über die Politie der Ithakesier, bot einen möglicherweise ganz herr?
lichen, nicht tragischen, sondern glücklichen Ausgang dar: Odysseus
gibt der Nausikaa statt seiner den Sohn Telemachos zum Gemahl, sein
zweites, aber jugendlich.es Ich, das sie in dem Vater geliebt. Goethe
kannte die Sage und läßt den scheidenden Odysseus wirklich den Sohn
anbieten, und Alkinoos und Arete sind schon gewonnen; da heißt es
aber im Scenarium nur kurz: „Die Leiche“. Und in der Aufzeichnung
des Tagebuches: da Odysseus sich als einen scheidenden erkläre, bleibe
dem guten Mädchen nichts übrig, als im fünften Akte den Tod zu
suchen. Nausikaa hatte ihn geliebt und den dargebotenen Ersatz ver*
worfen.

Goethe erklärt, daß er über dem Vorhaben seinen Aufenthalt zu
Palermo, ja den größten Teil seiner übrigen sizilianischen Reise verträumt
habe. Von deren Unbequemlichkeiten er denn auch wenig empfunden,
indem er sich auf dem überklassischen Boden in einer poetischen Stimmung
fühlte; in dieses wunderbare Medium tauchte für ihn jeder Anblick,
jede Wahrnehmung von selber sich ein.

Aufgeschrieben habe er wenig oder nichts, wohl aber den größten
Teil bis aufs letzte Detail im Geiste durchgearbeitet. Durch „nach^
folgende Zerstreuungen zurückgedrängt“, sei der Plan bis zu einer „flücln
tigen Erinnerung“ verblaßt.

Mit Goethe ist nicht zu rechten. Schmerzlich wäre es, denken zu
müssen, daß botanische Präokkupationen wegen der Urpflanzen aufKosten
der Tragödie jene weihevollste und vielleicht entscheidende Stunde im
Garten von Palermo (17. April 1787) möchten vorweggenommen haben;
denn die botanische Wissenschaft würde auch ohne Goethe, so wie zum
Beispiel die Wasserbaukunst und Mechanik auch ohne Lionardo da
Vinci, auf alle ihre wirklichen Wahrheiten und Entdeckungen geraten
sein, während die großen Schöpfungen der Poesie und Kunst nur an ganz
bestimmte große Meister gebunden sind und ungeboren bleiben, wenn

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