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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 37.1915-1916

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Müller, Friedrich: Die Anfänge der Geschmacksbildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8533#0267

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Die Anfänge der Geschmacksbildung.

PROFESSOR JOSEF HOFFMANN WIEN.

»TEE-TEMWCI.CHKN« l'l.ASTIK VON ANDRI.

Zum andern faßt sie den Gegenstand des Ge-
schmackes viel zu beschränkt, ja in gewissem
Sinne falsch, wenn sie ihn in der sog. „Kunst"
sieht, Kunst im engeren Sinne natürlich, als
bildende Kunst oder doch höchstens noch Musik
und Poesie dazu. Gewiß gibt es auch in der
Kunst Geschmack und (leider noch viel mehr)
Geschmacklosigkeit; aber es gibt nicht allein
in der Kunst Geschmack. Geschmack, bezw.
Mangel daran kann man auf jedem Gebiete
menschlicher Kultur beweisen, im täglichen
Leben z. B. in Kleidung und Benehmen noch
viel auffälliger als in der Kunst. Geschmack
bezieht sich nicht auf einen bestimmten Gegen-
stand, sondern kennzeichnet ein allgemeines
Verhalten des Menschen zu beliebigen Gegen-
ständen, nämlich die Art und Weise, wie der
Mensch seine Umgebung (im weitesten Sinne)
zu gestalten versteht oder wie er sich zu schon
Gestaltetem stellt — anerkennend oder ver-
urteilend. Faßt man aus solchen Erwägungen
das Wort Kunst im weitesten Sinne als Inbegriff
alles Könnens oder Gestaltens, so ist freilich
alle menschliche Kultur Kunst und dann mag
man Geschmack auch gleich Kunstsinn setzen.

Hieraus folgt, daß Geschmack niemals lehr-
bar, höchstens durch Beispiel anerziehbar ist.
Da nun erfahrungsgemäß der Mensch in seinen
ersten Jugendjahren am leichtesten durch Bei-
spiel zu beeinflussen ist und zwar nachhaltig,
so ergibt sich die Notwendigkeit, mit der Ge-
schmacksausbildung möglichst frühe zu begin-
nen ; nicht Dessert vielmehr die Grundlage aller
Erziehung sollte sie bilden. Im vierten Lebens-
jahre ja noch früher hat sie einzusetzen, oder
besser gesagt, von dem Zeitpunkt ab, wo Kin-
der anfangen ihre Umgebung und sich selbst zu
betrachten, d. h. zu beurteilen. Der Geschmack
der meisten Menschen setzt sich aus Gewohn-
heiten zusammen, wie überhaupt der ganze
Mensch. Was das Kind in frühester Jugend in
seiner Umgebung gesehen hat, was ihm als
schön und gut gepriesen wurde, und was es
gewohnheitsmäßig als solches anerkannte, das
gibt den Maßstab für jede spätere Beurteilung
wie auch die Richtschnur für die eigene Ge-
staltung ab. Als Gegenstand, auf den die kind-
liche Aufmerksamkeit sich zunächst richtet und
der demnach erstes Objekt des Geschmackes
ist, kommt zweifellos die Kleidung in Betracht.
 
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