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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 43.1918-1919

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Volbehr, Theodor: Die Farbe grün, Goethe und Kandinsky
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https://doi.org/10.11588/diglit.9119#0395

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einem Einfachen. Man will nicht weiter und
man kann nicht weiter. Deswegen für Zimmer,
in denen man sich immer befindet, die grüne
Farbe zur Tapete meist gewählt wird".

Und Kandinsky schreibt: „Absolutes Grün
ist die ruhigste Farbe, die es gibt: sie bewegt
sich nach nirgend hin und hat keinen Beiklang
der Freude, Trauer, Leidenschaft, sie verlangt
nichts, ruft nirgend hin. Diese ständige Ab-
wesenheit der Bewegung ist eine Eigenschaft,
die auf ermüdete Menschen und Seelen wohl-
tuend wirkt, aber nach einiger Zeit des Aus-
ruhens leicht langweilig werden kann. Die in
grüner Harmonie gemalten Bilder bestätigen
diese Behauptung. . . Die Passivität ist die
charaktervollste Eigenschaft des absoluten Grün,
wobei diese Eigenschaft von einer Art Fett-
heit, Selbstzufriedenheit parfümiert wird. Des-
halb ist das absolute Grün im Farbenreich das,
was im Menschenreich die sogen. Bourgeoisie
ist: es ist ein unbewegliches, mit sich zufrie-
denes , nach allen Richtungen beschränktes
Element. Dies Grün ist wie eine dicke, sehr
gesunde, unbeweglich liegende Kuh, die nur

zum Wiederkauen fähig mit blöden, stumpfen
Augen die Welt betrachtet. Grün ist die Haupt-
farbe des Sommers, wo die Natur die Sturm-
und Drangperiode des Jahres, den Frühling,
überstanden hat und in eine selbstzufriedene
Ruhe getaucht ist".

Man sieht: für Goethe sowohl wie für Kan-
dinsky ist Grün die Farbe der Ruhe, der wunsch-
losen Gelassenheit. Wie erklärt sich das?
Sollten die Ethnographen und Kulturhistoriker
recht haben, die behaupten, daß die Wirkung
der Farben auf die Seele der Menschen mit
höchst realen Beziehungen zwischen den Men-
schen und den mit den betreffenden Farben
bekleideten Gegenständen zusammenhänge, daß
uralte Dankbarkeit oder uralte Scheu auf dem
Wege der Vererbung bei der Wertung der Far-
ben mitspreche? Man weiß es, daß die Orien-
talen die grüne Farbe lieben, daß Mohammed
für sein Banner Grün wählte. Und man sagt:
kein Wunder, denn Grün war die lockende
Farbe der Palmen-Oasen, die dem Wtisten-
wanderer Erquickung, Schatten, Wasser, Obst
versprach. Es wäre seltsam, wenn der Türke

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