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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 45.1919-1920

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Michel, Wilhelm: Kunst als Umwälzung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9121#0104

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Kunst als Umwälzung.

SKriin KKT D. PECHE-WIEN.

»FRUCHTSCHALE IN MESSING«

schungsmäßige ward umgestürzt, sondern auch
das Weltanschauliche dieser Wissenschaften,
die philosophischen und religiösen Bestandteile,
die ihnen anhaften. Und niemand hat daran
gedacht, etwa Frau Curie oder Herrn Becquerel
wegen vermessener Neuerungssucht auf die
Anklagebank zu setzen. Ebenso setzt sich in
der Technik widerstandslos das Zeitnotwendige
anstelle des Überlebten; das geht mit Eigen-
wucht und Eigenkraft, ohne Frage und ohne
Bedenken. Und wenn sich Widerstand er-
hebt — wie der der französischen Handweber
gegen die Erfindung des mechanischen Web-
stuhles — dann ist dies für die historisch-tech-
nische Betrachtung eine Sache des Lächelns,
der Verachtung. Denn diese Neuerungen haben
für unser Empfinden ohne weiteres die Wucht
und Autorität des unausweichlichen Müssens.

Daß aber die Kunst unter einem noch
ernsteren, weil geistigeren Müssen steht,
dagegen versucht sich die Menschheit, geblendet
vom Glanz fixierter Ideale, verführt von der
Bequemlichkeit arbeitslosen Genusses, immer
wieder zu erheben. Sie versucht sich der
sonnenklaren Wahrheit zu verschließen, daß
auch diese fixierten Ideale, die sie gegen Neues
ausspielt, nur auf Grund früherer Revolutionen

verwirklicht werden konnten und daß nur über
ihren Zusammenbruch der ewige, schöpferische
Weg der Kunst weitergehen kann. Sie weiß
nicht, was den Künstler treibt, wenn er bequeme
alte Formen sprengt und mit glühenden Augen
des Abenteurers ins Unentdeckte schreitet, den
Fahnenspeer des Eroberers in der Hand, die
Macht und Größe der Menschheit um neue
riesige Provinzen zu erweitern. Sie verfährt
bei ihrer Polemik gegen die künstlerischen
Neuerer genau so wie bei ihrem Widerstand
gegen die unvermeidlich gewordenen politi-
schen Umwälzungen : sie klagt über Vernichtung,
wo turbulentes Schaffen zum Neubau treibt;
sie höhnt über Nicht-Können, wo die Bahn
für neuartiges Können freigemacht wird; sie
predigt gegen Pose und Anmaßung, wo ehernes
Müssen, übergewaltiger Zwang und Druck jede
Geberde spannt und bildet.

Das Schöpferische alter Zeiten bleibt freilich
immer eine Quelle des Genusses und des Auf-
schwunges. Aber heute noch mißversteht
derjenige einen Rembrandt, einen Tizian, einen
Polyklet, der nicht in ihren Werken das Er-
kämpfte , das Pathos der Empörung fühlt; der
nicht empfindet, daß diese Werke in ihre Zeit
gestellt wurden mit derselben Geste, mit der
 
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