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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 45.1919-1920

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Worringer, Wilhelm: Natur und Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.9121#0279

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NATUR UND EXPRESSIONISMUS.

Nicht der Natur schlechthin, nur der Natur-
gesetzlichkeit wird der Platz im expressio-
nistischen Kunstwerk versagt. Diese Naturge-
setzlichkeit, bejaht und verklärt von der Antike,
wieder aufgefunden von der Renaissance und
mit den Schriftzügen des Humanismus und des
Klassizismus als alleinseligmachendes Dogma
auf die Grundtafeln unserer Kunstbildung ein-
gegraben: ihr setzt der geistige, der expres-
sionistische Künstler den Widerstand seiner
ihm bewußt gewordenen autonomen geistigen
Schöpfungskraft entgegen. Einen Widerstand,
der von der Erkenntnis ausgeht, daß jene uns
im praktischen Leben selbstverständlich gewor-
dene Einregistrierung aller Erlebniswerte in die
fertigen Schubladen der Naturgesetzlichkeit, ja
die Vergottung dieses Schubladensystems in
irgendeinem pantheistischen oder monistischen
Sinne sich vor dem Tribunal einer höheren
Geistigkeit des Erlebens nur als eine ahnungs-
lose Travestierung des Göttlichen ausweist, für
die auch im geistig gerichteten Kunstwerk kein
Platz sein darf. Kunst ist in diesem Sinne dem
expressionistischen Künstler nicht Triumph der
sinnlichen Erkenntniskraft, nicht glorifizierte
Anthropomorphisierung der Welt, ist ihm viel-
mehr der triumphierende Ausbruch geistiger
Erkenntniskraft, lebendiger Hebelansatz zu

einer Theomorphisierung der Welt. . . . Auf
der Vision, nicht auf der Erkenntnis, auf der
Offenbarung, nicht auf dem Wahrgenommenen
liegt der Ton beim Expressionismus. Jede reli-
giöse Kunst ist in diesem Sinne Feindin der
Naturgesetzlichkeit. Feindin der Naturgesetz-
lichkeit, nicht Feindin der Natur. Die Natur
lebt auch in aller expressionistischen und visio-
nären Kunst, aber es ist eine besondere Art
von Natur. . . . Stichwort ihres geistigen Aus-
drucksaktes ist nicht die schöne geklärte Natur,
sondern die rätselhafte eindringliche unartiku-
lierte Wirklichkeit, die nie den drohenden
Charakter des Gespenstischen verliert. Natur-
erfassung ist Glück und Beruhigung. Wirklich-
keitserfassung in jenem besonderen Sinne ist
Qual und Erschütterung. Die Natur kommt uns
entgegen, Wirklichkeit verfolgt uns. Nur an
ihr entzündet sich geistige Kunst.

Mit der Antithese von Natur und Geist ist
nichts getan, wenn nicht darunter die Antithese
von Naturgesetzlichkeit und Geistgesetzlichkeit
gemeint ist. Auf das Gesetz kommt es an, auch
bei der Fragestellung Natur oder Wirklichkeit.
Denn die Natur hat ihr eigenes, von uns sinn-
lich nachfühlbares Gesetz, jene Wirklichkeit
aber ist ohne Gesetz, ihr Gesetz diktiert ihr
erst der Geist. . . . wilh. worringer im »genius«.
 
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