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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 45.1919-1920

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Frank, Willy: Alte Kunst als Schlüssel zur neuen: zu den Bildern aus dem Staedelschen Institut
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Weinmayer, Konrad: Die Primitive
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https://doi.org/10.11588/diglit.9121#0180

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Alte Kunst als Schlüssel ztir neuen.

weil wir uns zu besinnungslos mit ihr einge-
lassen hatten. Es kommt hinzu, daß moderne
Kunst darzustellen hat, was für die Geisteslage
des Augenblicks bestimmend ist: die chaotische
Aufgerütteltheit, das schmerzvolle, dem Freund-
lich-Irdischen entfremdete religiöse Erleben,
den Rausch und Schwindel kosmischer Be-
drohung. Aber auch wenn dies nicht der Fall
wäre: es müßte dennoch der Kunst und ihren
Darstellungsmitteln die barbarische Familiarität
mit der äußeren Natur ausgetrieben werden,
damit später wieder ein gerecht abgewogenes
Verhältnis von Geist und Natur im Bildwerk
hervortreten könne. Gerade vom Standpunkt
alter Kunst aus muß anerkannt werden: Es
ist ein großer Reinigungsprozeß, der sich in der
Kunst unserer Tage begibt, unausweichlich, un-
aufschiebbar. Und wieder ein Blick auf unsere
Bilder: man muß den geistigen, den naturfrem-
den Bestandteil in der Form eines Bartolo-
meo da Venezia (nachweisbar 1502 —1530)
spüren, die außerordentliche Gespanntheit jeder
Linie, die absolute Enthobenheit aus der „Na-
tur", die Einreihung jeder Form in einen kri-
stallischeren, gesetzdurchherrschten Bereich;
dessen als grobes äußerliches Zeichen die
drahtartige Windung und Starre der Haarlocken,
in deren Behandlung durchaus ornamentale,
gewaltsame Charakteristik spricht.........

Am interessantesten freilich sind die Fälle,
in denen alte und neue Vision zu sinnfälliger
Gleichheit der Ergebnisse führt. Es ist nicht
möglich, etwa die Tiergestalten des Hans
Baidung (Grien, 1480-1545) zusehen, ohne
an modernste Leistungen, etwa Franz Marc,
Chagall, Seewald, zu denken. Es ist in
beiden Fällen das Tier an sich, der äußeren
Zufälligkeiten des Tierkörpers entkleidet, da-
mit die innere Frommheit und Heiligkeit tie-
rischen Lebens sanft und dumpf hervortrete.
Auch der eigentümlich starke Umriß der Figur
des Jesuskindes, das durch Tilgung aller Schat-
ten zur lichtausgeschnittenen Fläche wird, steht
in deutlicher Beziehung zur Anschauungsweise
der neuen Kunst. Es ist bekannt, daß Ana-
logien solcher Art in unendlicher Anzahl zu
finden sind. Hier handelte es sich nur darum,
sie in einem gleichsam zufälligen Material im
Vorübergehen nachzuweisen. In der Haupt-
sache aber darum, festzustellen, daß die geistige
Fühlung der modernen Kunst mit der alten
(wenn dieser gewaltsame Sammelbegriff ge-
wagt werden kann) lebendiger ist, als je in den
Jahren vorher; daß die neue Kunst keine Tra-
dition zerstört, sondern im Gegenteil an Über-
lieferungen wieder anknüpft, die von einem
ungeistigen Zeitalter bis auf den letzten Rest
vergessen waren............willy frank.

DIE PRIMITIVE.

In der Schwüle nie vorher dagewesener Kom-
pliziertheit, zur Zeit, wo optische Rekorde
auf dem Gebiete der Kunst sich jagten, wuchs
in Europa das Pflänzchen der Primitive auf.
Mit großen, unschuldsvollen, reinen Augen
schaute sie dem Dünkel und der Lüge der Zeit
ins Angesicht und ward darum gehaßt vom
ersten Tage an. Die Pflanze gedieh trotzdem
und wuchs über die Nebelschicht des Wissens
in den Äther hinein und seine Unfaßbarkeit.
Sie zeigte denen, die ihr folgten, die Unend-
lichkeit. Sie vernahmen längst verhallte Klänge
der Kindheit, die etwas unsagbar eindringlich
Großes, Mahnendes und Beglückendes hatten.
Weit rückwärts in der Kunst bewegt sich der
Hang zu Giotto und seinen Vorfahren. Das
Individuelle der Erscheinung, die Masaccio
himmelstürmend dem Leib gegeben, wird ge-
tilgt, die Menschheit als Ganzes wieder in sich
geeint, eins im Leben und Sterben mit der um-
gebenden Natur, die Innensilhouette ausge-
löscht, die Außensilhouette erhält neu den Ton.
Sie droht, sie verkündet längst nicht mehr ge-
schaute reine Liebe. Festgezimmerte Begriffe

reaktivieren sich. Die Empfindungen etwa des
Geborgenseins unter dem Dach, des Einladen-
den eines Raumes verstärken sich, Valeur-
rhythmen im Bild bewegen uns, die reinge-
waschene Farbe bohrt mit ungeheurer Intensi-
tät in unser Inneres sich ein. Die Transparenz
der Rotskala erschüttert bis ins Maik, wie wir
sie zuletzt noch bei Grünewalds Verkündigungs-
engel seines Isenheimer Altars geschaut. Evan-
gelien aus der Urwelt der Menschheit dringen
auf uns ein, es ist eine neue Religion. Die Be-
wegung bleibt sich unentwegt treu. Der Schwa-
nengesang der Europäischen Kunst hebt an.
Sie betet für ihr Volk. . . . konrad weinmayer.

Ä

Formschöpfung ist nicht Sache des Einzel-
nen, sondern der Geschlechterreihen. Nicht
Menschenwerk, sondern Menschheitswerk;
noch mehr: animalisches Werk, nach Art des
Baues von Nestern, Bienenzellen, Ameisen-
haufen.............. walther rathenau.

*

Die Kunst läßt sich ohne Enthusiasmus we-
der fassen noch begreifen..... goethe.
 
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