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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 45.1919-1920

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F., W.: Belebung der Stickerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9121#0113

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ARCHITEKT I). PECHE.

STICKEREI AUF SEIDE'

BELEBUNG DER STICKEREI.

Im letzten Jahrzehnt hat die Stickerei einen
unerhörten Aufschwung genommen. Stück
für Stück sind die Engherzigkeiten, mit denen
das neunzehnte Jahrhundert die Stickkünste
umklammert hatte, abgefallen. Der kleinliche,
platte, niedrige Zug, die barbarische Unqualität
sind geschwunden; oder sie fristen doch nur
noch ein Schattendasein in Winkeln, die von
jeher aller Geschmackspflege unzugänglich
waren. Die Stickerei hat bekanntlich eine
historische Vergangenheit von höchstem Glanz
und Ansehen. Diese Vergangenheit haben wir
tiefer, innerlicher aufzufassen gelernt. Wie wir
aller Historie innerlich freier und schöpferischer
gegenüberstehen als das neunzehnte Jahrhun-
dert, so auch hier: Wir verstehen Vergangenes
aus dieser schöpferischen Freiheit heraus sinn-
voller und lebendiger zu nutzen als Zeiten, die
dazu verdammt waren, nur an der Oberfläche
historischer Kunstleistung hinzutasten. Dazu
kommen die unschätzbaren Anregungen, die
der Stickerei aus der expressionistischen Kunst
zugeflossen sind. Und dazu kommt drittens
das viel innigere Verständnis für das technische

Verfahren, die neu erworbene Fähigkeit, in
innigstem Verkehr mit dem Material kräftig
ernährte Erfindung zu betätigen.

Freiheit des Geistes, Kühnheit des Orna-
ments, Schwung der Erfindung, Vielseitigkeit
der Technik und der Anwendung — dies sind
die Merkmale der Stickerei. Wir sind mitten
in einem positiven, charaktervollen Stil der
Stickkünste, belebt von den wirkenden Kräften
der Zeit. Ein Stil, der den Vergleich mit glän-
zenden Perioden der Vergangenheit nicht zu
scheuen braucht, wenn man sich dazu versteht,
die heute entwurzelte und der Stickerei nicht
eigentlich zugehörige Kunst des Gobelins als
Vergleichsgegenstand auszuscheiden. Ein sehr
günstiger Umstand war es, daß die Einwirkung
der Maschine und der Industrie an den Grenzen
der Stickkünste notgedrungen Halt machen
mußte. Sie konnte nur gerade das abgezirkelte
und unwichtige Gebiet der Konfektionsstickerei
ergreifen, mußte aber dem Künstler ein weites
Feld schöpferischer Betätigung ungestört über-
lassen. Die eigentliche, maßgebende Entwick-
lung der Stickkünste vollzieht sich in Verfahren,
 
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