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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 45.1919-1920

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Michel, Wilhelm: Stimmungswerte des expressionistischen Ornaments
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https://doi.org/10.11588/diglit.9121#0264

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STIMMUNGSWERTE DES EXPRESSIONISTISCHEN ORNAMENTS.

Naturalismus und Im-
pressionismus waren
ornamental unergiebig. Sie
gipfelten im Nachempfinden
der malerischen Gesamtheit
der Erscheinung. Sie waren
hauptsächlich aufnehmend
und linienscheu gestimmt.
Sie verherrlichten als Haupt-
tugend des Künstlers die
passive Reizempfänglich-
keit. Das Ornament aber
ist wesentlich tätiger und
geistiger Art. Es beruht auf
Abstraktionen, und diese
setzen schon dem Wortsinne
nach die bewußte Tätig-
keit des Abstrahierens
voraus. Diese tätige Gesin-
nung ist im Expressionis-
mus wieder zu Worte ge-
kommen. Daher seine starke
Beziehung zur Linie, daher
seine umfassend neue Aus-
deutung der Formen, sein
unablässiges Ausrufen eines
neuen Weltbildes, mit dem
er alsbald aus der Malerei
auf die Glaskünste, dann
auf die Stickerei überge-
griffen hat, um nun — das
zeigt sich deutlich — den
ganzen weiten Umkreis ar-
chitektonischen und kunst-
gewerblichen Formens zu
erfassen. Eine ornamentale
Gesinnung ist da, so grund-
legend neu, daß jede klein-
ste ihrer Äußerungen den
Geist spiegelt, der im Gan-
zen wirksam ist. Es reizt,
die Hauptlinien in der Phy-
siognomie dieses Geistes
nachzuzeichnen. — Wo alte
Ornamentik aufgelöste, pas-
sive Stimmung in weichen,
blühenden Kurven vortrug,
erleben wir im neuen Or-
nament Zusammenballung,
Härte, männliche Aktivität.
Der Expressionismus bevor-
zugt die scharf gebrochene
Linie, den spitzen Winkel,
im Einzelnen wie in der
ganzen Komposition. Die

ARCHITEKT DR. HANS SOEDEB DARMSTADT.
KINDER-GRABZEICHEN l\ HOLZ

ARCHITEKT PHILIPP KNAUF DÜSSELDORF.
»GRABZEICHEN EN HOLZ«

gebrochene Linie ist Symbol
des Scharfen, Aktiven, Gei-
stigen. Die leitende Idee
des alten Ornaments war
letzten Endes der Kreis:
rund ausschwingende Har-
monie, genießerisch, einlul-
lend, versöhnend. Die lei-
tende Idee des neuen Orna-
mentes ist das spitzwinklige
Dreieck: Aufruf, Entzwei-
ung, Einseitigkeit, grund-
sätzliches Aufgebender run-
den Ganzheit zugunsten der
geschärften Tat. Keilform,
Lanzenform, Stimmungs-
wert des Spitzen, Stechen-
den, Schneidenden, des ein-
seitigen Zusammenraffens
zur Tat. Mit dem alten Or-
nament verbinden sich Emp-
findungsvorstellungen der
Wärme; das neue ist kalt,
wenn auch gelegentlich
durchaus heiter und leicht.
Das alte lebt im Begriff der
Ruhe. Es sendet Linien aus,
um sie in liebenden Spira-
len wieder heimzurufen. Das
neue Ornament ist ganz
Ausstoß, Bewegung, ver-
hält sich zum früheren wie
die auffahrende Rakete zur
unbewegtenBogenlampe. Ir-
gend etwas von Formspren-
gendem ist in ihm; oder,
wenn das angesichts der
starken expressionistischen
Formkräfte schief gesagt
scheint: seine Form ist go-
tisch bewegter Ausbruch,
gegenüber der bescheide-
nen und heute hausbacken
erscheinenden Befriedung
des älteren Ornaments. Als
echtes Kind des expressio-
nistischen Menschen hat es
den Begriff des Ruhevollen,
Harmonischen aufgegeben
und sich auf den Stimmungs-
wert der Vereinseitigung
festgelegt; auf das Ganze
deutet es nur durch seine
drang- und strebensvolle
Bewegung. Ja, es liegt
 
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