Zur Entstehung der modernen Kunst.
koko ist das, wie es nach Retif de la Bretonne,
nach Corbiere, Giraud, Verlaine, Laforgue noch
einmal köstlichst aufblühen sollte. Das eigent-
liche Rokoko stand unter chinesischem Einfluß;
dieses, sporadische, unsrer Zeit, war japanesk
orientiert. Auch von Beardsley aus. Noch
entscheidender allerdings durch Toulouse de
Lautrec, einen der allerstärksten Stilfüger der
modernen Zeit! Ganz im Gegensatz zu Beards-
ley, der eine Linie brachte, schöpfte Toulouse
de Lautrec spontan aus der Farbe. Er hielt
sich an die Anschauung der Impressionisten:
es gäbe in der Natur bloß farbige Flächen!
Zeichnung, Kontur sind menschliche Abstrak-
tionen. Keines Künstlers Farbe aber konnte
jemals so fein gezeichnet „zerfließen", sich
selbst begrenzen, wie die Toulouse de Lautrecs.
Sie tut es auch noch, wo eine willkürlich ein-
gesetzte Linie sie begrenzt. (Ihr Schöpfer war
kein Pedant.) Ich gehe soweit zu behaupten,
daß Toulouse de Lautrec sogar der Ahne des
bedeutendenFarbenkomponistenHenri Matisse
und darüber hinaus des abstraktesten Künst-
lers Kandinsky sei. Das Wesentliche, ich meine
die Farbe bei Toulouse de Lautrec und noch
unbedingter bei Matisse, ist schließlich bei Kan-
dinsky „wesenhaft" geworden. Dieser letzte
hat nämlich alle Nebensachen radikal abgesto-
ßen: nicht nur Kontur und Zeichnung, sondern
sogar alle Vorgänge, Gegenständlichkeiten. Er
will bloß die Farbe. Sie soll aber dafür atmen:
sich dabei erzürnen dürfen, erfreuen können.
Lebendig machen. Ausschweifen. Sich selbst
bändigen. Immer die Farbe: ein Wesen!
Verwandt mit Toulouse de Lautrec ist einiger-
maßen auch Edvard Münch. Freilich, eine fast
etwas konstant-programmäßige, allerdings in
jedem Fall bloß einmalige Feststellung des
Faktums „farbige Fläche" ist bei ihm nicht so
knapp und eingekreist, wie beim Pariser Mei-
ster, zu beobachten: eher findet sich in ihm,
dem seelisch bewegten Norweger, bereits ein
entscheidender Übergang zum ganz regsamen
Russen Kandinsky, denn auch bei Münch gibt
es ja ein beinah hauchhaftes Aus- und Anatmen
gespenstischer Gesichte! Nur wird dieses At-
men grade rechtzeitig angehalten, so lang es
eben noch fähig bleibt, so deutlich etwas zu
gestalten, daß sich in seiner Atmosphäre Er-
scheinungen, Einhüllungen, ja sogar leibhafte,
naturalistisch gesehene Menschen materiali-
sieren, gegebenenfalls bilden können. Bei Kan-
dinsky hingegen verströmen sich die ihm ein-
gegebenen Farben in ein „Über-die-Norm-
hinaus I" Formen bleiben allerdings auch bei
ihm umschrieben, da die Elastizität seiner Far-
bensetzungen nicht mißbraucht werden darf.
Auch er kennt Grenzen derDehnbarkeit, die sich
nur dem Irdischen entrückteren Einzeicbnungen,
wie bei Toulouse Lautrec, ergeben müssen.
Polar zu diesen, im Grund gewiß stilsuchen-
den Äußerungen der künstlerischen Seele stehen
"XIII. Dczembtr 1919. 3
koko ist das, wie es nach Retif de la Bretonne,
nach Corbiere, Giraud, Verlaine, Laforgue noch
einmal köstlichst aufblühen sollte. Das eigent-
liche Rokoko stand unter chinesischem Einfluß;
dieses, sporadische, unsrer Zeit, war japanesk
orientiert. Auch von Beardsley aus. Noch
entscheidender allerdings durch Toulouse de
Lautrec, einen der allerstärksten Stilfüger der
modernen Zeit! Ganz im Gegensatz zu Beards-
ley, der eine Linie brachte, schöpfte Toulouse
de Lautrec spontan aus der Farbe. Er hielt
sich an die Anschauung der Impressionisten:
es gäbe in der Natur bloß farbige Flächen!
Zeichnung, Kontur sind menschliche Abstrak-
tionen. Keines Künstlers Farbe aber konnte
jemals so fein gezeichnet „zerfließen", sich
selbst begrenzen, wie die Toulouse de Lautrecs.
Sie tut es auch noch, wo eine willkürlich ein-
gesetzte Linie sie begrenzt. (Ihr Schöpfer war
kein Pedant.) Ich gehe soweit zu behaupten,
daß Toulouse de Lautrec sogar der Ahne des
bedeutendenFarbenkomponistenHenri Matisse
und darüber hinaus des abstraktesten Künst-
lers Kandinsky sei. Das Wesentliche, ich meine
die Farbe bei Toulouse de Lautrec und noch
unbedingter bei Matisse, ist schließlich bei Kan-
dinsky „wesenhaft" geworden. Dieser letzte
hat nämlich alle Nebensachen radikal abgesto-
ßen: nicht nur Kontur und Zeichnung, sondern
sogar alle Vorgänge, Gegenständlichkeiten. Er
will bloß die Farbe. Sie soll aber dafür atmen:
sich dabei erzürnen dürfen, erfreuen können.
Lebendig machen. Ausschweifen. Sich selbst
bändigen. Immer die Farbe: ein Wesen!
Verwandt mit Toulouse de Lautrec ist einiger-
maßen auch Edvard Münch. Freilich, eine fast
etwas konstant-programmäßige, allerdings in
jedem Fall bloß einmalige Feststellung des
Faktums „farbige Fläche" ist bei ihm nicht so
knapp und eingekreist, wie beim Pariser Mei-
ster, zu beobachten: eher findet sich in ihm,
dem seelisch bewegten Norweger, bereits ein
entscheidender Übergang zum ganz regsamen
Russen Kandinsky, denn auch bei Münch gibt
es ja ein beinah hauchhaftes Aus- und Anatmen
gespenstischer Gesichte! Nur wird dieses At-
men grade rechtzeitig angehalten, so lang es
eben noch fähig bleibt, so deutlich etwas zu
gestalten, daß sich in seiner Atmosphäre Er-
scheinungen, Einhüllungen, ja sogar leibhafte,
naturalistisch gesehene Menschen materiali-
sieren, gegebenenfalls bilden können. Bei Kan-
dinsky hingegen verströmen sich die ihm ein-
gegebenen Farben in ein „Über-die-Norm-
hinaus I" Formen bleiben allerdings auch bei
ihm umschrieben, da die Elastizität seiner Far-
bensetzungen nicht mißbraucht werden darf.
Auch er kennt Grenzen derDehnbarkeit, die sich
nur dem Irdischen entrückteren Einzeicbnungen,
wie bei Toulouse Lautrec, ergeben müssen.
Polar zu diesen, im Grund gewiß stilsuchen-
den Äußerungen der künstlerischen Seele stehen
"XIII. Dczembtr 1919. 3