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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 45.1919-1920

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Osborn, Max: Berliner Sezessionsplastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9121#0308

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Berliner Sezessionsplastik.

zum großen Teil bereits wieder über den Im-
pressionismus hinauswuchs: auch da, wo sie
ihm am innigsten verknüpft scheint, enthält sie
Wirkungen, die ihm in der Malerei meilenfern
lagen. Nicht nur, daß Rodin, wie jeder Bild-
hauer, auch beim engsten Anschluß an die Natur
sich selbständig neben ihre Körperschöpfungen
stellte — wie verächtlich hat er sich über den
dummen Vorwurf ausgesprochen, daß er „mit
Gipsabgüssen arbeite" —, das Wesentliche
blieb auch hier ein Etwas, das nicht aus den
Objekten, sondern aus der Phantasie und Emp-
findung des Künstlers selbst quoll: die wunder-
bare Vergeistigung des zum Leben erweckten
Steingebildes oder der aus glühendem Metall
gegossenen Gestalt. Der Glanz dieser Schöp-
fungen liegt nicht in ihrer Naturnähe, sondern
in der tiefen Beseelung der zu künstlerischen
Ordnungen geformtenMaterie, in derum Büsten,
Figuren und Kompositionen flutenden unsicht-
baren Schicht eines rätselhaften, mit Worten
nicht faßbaren Gefühls.

Von der anderen Seite her tat neben Rodin
Maillol den Schritt zu einer plastischen Kunst-
weise, die den zum Abstrakten strebenden
Elementen der Bildhauerei näher zu kommen
suchte. Wir erkennen die gleiche Doppel-
bewegung wie bei der Entwicklung der expres-
sionistischen Malerei. Dort die gründlichere,
alles Modellieren, Aufbauen und Hämmern
beherrschende Durchdringung mit Strömen
persönlichsten Gefühlslebens — hier die vom
Formausdruck her entwickelte, dem Sinn bild-
nerischen Tastens und räumlichen Denkens
folgende Neugestaltung des plastischen Rundens.
Beide Bewegungen beginnen alsbald sich zu
berühren, sich zu verknüpfen, zu verschmelzen,
und gelegentlich auch wieder von einander zu
trennen, sodaß, mit der Beschränkung, die sich
auf dem Gebiete der Skulptur von selbst ergibt,
auch hier ein Reichtum höchst verschieden-
artigen Arbeitens erblüht. Etwas davon spiegelt
sich in denProben der Bildwerke von der letzten
Ausstellung der „Freien Sezession" in Berlin,
die hier in Abbildungen erscheinen. Georg
Kolbes „Denkmal für einen Jüngling" deutet
auf das Hinüberfluten der früheren Anschauung
in einen neuen Vorstellungskreis. Mir scheint
die Mischung nicht ganz gelungen, nicht durchaus
organisch vollzogen, aber sie ist charakteristisch
für den Zeitwandel. Kolbes Art war von jeher
auf eine, irgendwie von Rodin abstammende
Behandlung nackter Körper gestellt. Auch er
kennt das „voiler le nu" des französischen
Meisters, diese Kunst, einen Körper, der atmen-
des Menschenleben deutend wiedergibt, gleich-
sam mit einem zarten, aus verhaltenenRegungen

des Gefühls gewobenen, unsichtbaren und doch
fühlbaren Schleier zu umkleiden, der weit über
ein Naturbild hinaus das Geheimnis dieses
individuellenLebens und des Lebens überhaupt,
das Geheimnis der großen Wunder von Glieder-
entfaltung und zweckgemäßer Schönheit, von
Ebenmaß und Gleichgewicht ahnen läßt. Das
ist auch hier der Fall. Die Jünglingsgestalt
umschwebt eine Sphäre der Trauer. Der zur
Seite geneigte Kopf, die wagerecht empor-
gehobene linke Hand, die, ursprünglich greifend,
doch schon willenlos, ins Leere faßt, die Gelöst-
heit der schlanken, noch nicht voll entfalteten
Glieder vereinigen sich zu einem höchst beredten
stummen Spiel. Nicht ganz damit im Einklang
steht die untere Partie des Werkes, die eigen-
willig gekreuzten Beine, welche die wohl auch
oben schon mitsprechende Herbheit der Formen
plötzlich intensiver betonen, als der herab-
gleitende Blick erwartete, und die in gotisieren-
den Brüchen sich faltende Gewandung, die dies
Motiv, nun hier dem Körpermotiv eng ange-
schlossen, ergänzt und begleitet. Dennoch geht
ein feiner Reiz von dem Werke aus. Eine
starke Empfindung drängt hervor und über-
windet schließlich den formalen Widerspruch.

Milly Steger, deren große Begabung von
vornherein sich dem Willen einer neuen Aus-
druckskunst unterordnete, hat ihre Absichten
selten so vollkommen erreicht wie in der Figur
der Jephtatochter. Aus dem blühenden jungen
Geschöpf, über dessen Tanz das Todesschicksal
schwebt, steigt eine rührende Klage auf. Körper
und Glieder, in jedem Zuge der Wirklichkeits-
beobachtung entstammend, steigen über sie zu
eigner, höherer Geltung auf. Ein mit hoher
künstlerischer Reife geübtes Spiel von Wir-
kungen und Gegenwirkungen, von Linienhar-
monien und -Dissonanzen führt das Auge in
eine jenseits des Realen ruhende Formenwelt
von allgemeiner Gültigkeit, ohne doch den Zau-
ber persönlichen Lebens ganz zu verwischen.

Herbert Garbes Gußgruppe zeigt am deut-
lichsten wie sich seit Rodin die Formvorstellung
gewandelt hat. Alles ist hier aus dem Indivi-
duellen in ein Allgemeingültiges emporgehoben.
Was wir sehen, ist Gestaltung und Hymnus
nicht der Vereinigung zweier Menschen, sondern
der heiligen Hingabe und Ekstase geschlecht-
licher Vereinigung überhaupt, ihres natürlichen
Zwangs und ihrer Wonne. Das erscheint vor-
getragen in klarer Vereinfachung menschlicher
Formen, die in bedachter Verteilung und Har-
monie des Auf baus, in wohlgelungenem Hin und
Wider der von triebhaftem Leben erfüllten
Körper den bestimmten Raumabschnitt füllen
und zu gestalteter Anschauung bringen. — o.

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ssa
 
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