Die Kunst und ihr Publikum.
LOTTE PRITZEL—MÜNCHEN. VITRINEN-PUPPE »BEI.LINO«
Zertrümmern gewohnter Harmonie. Sein Wider-
stand ist naturgesetzlich. Der Kampf, den neue
Kunst um Anerkennung und volksmäßige Wirk-
samkeit führen muß, ist die notwendigste und
unvermeidlichste Erscheinung des Kunstwer-
dens; ist in keinem Falle auf das Konto geistigen
Mangels oder böswilliger Reaktion zu setzen.
Er ist genau so notwendig, wie die andere Er-
scheinung, daß der Widerstand immer wieder
aufgegeben wird, sobald die neue Form ihre
Positivität ganz enthüllt hat und die neue Har-
monie umfänglich erkannt und gefühlt ist.
Es gibt noch mehr zur Entlastung des Pub-
likums zu sagen. Ich weiß als Kunstfreund
und Künstlergenosse, daß neue Wendungen
in der Kunst immer aus einem mächtigen Müssen
kommen. Eine neue Kunstgesinnung will herauf,
ein neues Weltgefühl drängt sich heran, mit
dem unwiderstehlichen Ungestüm elementarer
Ereignisse. Die Künstler empfinden das, was
so in geistiger Welt werden will, früher und
deutlicher als die Laien. Sie sind ja keines-
wegs bloß Werkzeuge, sie sind Vorahner, Wege-
bereiter, sie geben Ausschläge, wie der Seis-
mograph auf Erschütterungen in riesiger Ferne,
so auf geistige Erschütterungen in der Ferne
der Zeit. Sie sprechen immer von wirklichem,
unwiderstehlichem Geschehen, wenn sie in eine
Wendung des Kunstwollens eintreten. Im Gan-
zen einer solchen Bewegung waltet also immer
Zwang und Müssen.
Nun aber wird diese Bewegung getragen
von einzelnen Menschen, die unter uns leben
und Mängel haben, wie wir alle. Sie zeichnet
sich zunächst ab in kühnen Vorstößen einiger
Weniger, die die Berufung an sich selbst er-
fahren haben. Aber, sowie sie ihr erstes Wort
gesprochen haben, finden sie Gefolgschaft von
allerlei Mitläufern. Eideshelfer der Neue-
rung finden sich ein, die mitmachen, um als
Originalnaturen zu erscheinen, die die ganze
Bewegung in die Breite ziehen, sie forcieren
und oft genug zum Teil verzerren. Der Laie
empfindet nicht ganz unrichtig, wenn er da
von leerer Mode spricht. Es ist Unsinn, be-
haupten zu wollen, die neueste Kunst werde
getragen von lauter echten Priestern und Ein-
geweihten. Gerade an die jüngste Umwälzung
in der Kunst haben sich massenhaft Mitläufer
gehängt, die mit der revolutionären Phrase pa-
radieren. Und wenn heute hervorragende schrift-
stellerische Vertreter des Expressionismus gegen
XXIII. März 1920. 5*
LOTTE PRITZEL—MÜNCHEN. VITRINEN-PUPPE »BEI.LINO«
Zertrümmern gewohnter Harmonie. Sein Wider-
stand ist naturgesetzlich. Der Kampf, den neue
Kunst um Anerkennung und volksmäßige Wirk-
samkeit führen muß, ist die notwendigste und
unvermeidlichste Erscheinung des Kunstwer-
dens; ist in keinem Falle auf das Konto geistigen
Mangels oder böswilliger Reaktion zu setzen.
Er ist genau so notwendig, wie die andere Er-
scheinung, daß der Widerstand immer wieder
aufgegeben wird, sobald die neue Form ihre
Positivität ganz enthüllt hat und die neue Har-
monie umfänglich erkannt und gefühlt ist.
Es gibt noch mehr zur Entlastung des Pub-
likums zu sagen. Ich weiß als Kunstfreund
und Künstlergenosse, daß neue Wendungen
in der Kunst immer aus einem mächtigen Müssen
kommen. Eine neue Kunstgesinnung will herauf,
ein neues Weltgefühl drängt sich heran, mit
dem unwiderstehlichen Ungestüm elementarer
Ereignisse. Die Künstler empfinden das, was
so in geistiger Welt werden will, früher und
deutlicher als die Laien. Sie sind ja keines-
wegs bloß Werkzeuge, sie sind Vorahner, Wege-
bereiter, sie geben Ausschläge, wie der Seis-
mograph auf Erschütterungen in riesiger Ferne,
so auf geistige Erschütterungen in der Ferne
der Zeit. Sie sprechen immer von wirklichem,
unwiderstehlichem Geschehen, wenn sie in eine
Wendung des Kunstwollens eintreten. Im Gan-
zen einer solchen Bewegung waltet also immer
Zwang und Müssen.
Nun aber wird diese Bewegung getragen
von einzelnen Menschen, die unter uns leben
und Mängel haben, wie wir alle. Sie zeichnet
sich zunächst ab in kühnen Vorstößen einiger
Weniger, die die Berufung an sich selbst er-
fahren haben. Aber, sowie sie ihr erstes Wort
gesprochen haben, finden sie Gefolgschaft von
allerlei Mitläufern. Eideshelfer der Neue-
rung finden sich ein, die mitmachen, um als
Originalnaturen zu erscheinen, die die ganze
Bewegung in die Breite ziehen, sie forcieren
und oft genug zum Teil verzerren. Der Laie
empfindet nicht ganz unrichtig, wenn er da
von leerer Mode spricht. Es ist Unsinn, be-
haupten zu wollen, die neueste Kunst werde
getragen von lauter echten Priestern und Ein-
geweihten. Gerade an die jüngste Umwälzung
in der Kunst haben sich massenhaft Mitläufer
gehängt, die mit der revolutionären Phrase pa-
radieren. Und wenn heute hervorragende schrift-
stellerische Vertreter des Expressionismus gegen
XXIII. März 1920. 5*