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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 56.1925

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Michel, Wilhelm: Zur modernen Kunstbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9179#0156

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CARL MENSE.

»STILLEBEN«

ZUR MODERNEN KUNSTBETRACHTUNG.

Die Kunsterörterung, das Denken über die
Grundtriebe und die Endzwecke künst-
lerischen Gestaltens hat sich in den letzten
Jahren immer entschiedener unter geistes-
geschichtliche Gesichtspunkte gestellt. Das
heißt: die Kunst wird immer entschiedener als
ein Teil unseres geistigen Gesamtlebens be-
trachtet; sie wird als Auswirkung geistiger
Kräfte angesehen, sie wird als eine Welt von
Zeichen behandelt, in welcher der Cbarakter
der Zeiten und Völker, ihr Weltbild, ihre reli-
giöse und geistige Gesamtlage sich abspiegeln.
Damit hängt die Leidenschaft für eine rein
physiognomische Kunstbetrachtung zusam-
men: die Kunst ist Gesicht, deshalb sucht
man, wie man ja auch im Leben aus den Gesich-
tern der Menschen ihren Charakter erschließt,
an den Werken der Kunst die geistige Realität
abzulesen, die in ihnen sich sinnfällig ausdrückt.

Diese geistesgeschichtliche Betrachtung, die
das Vergängliche sehr ernsthaft als ein „Gleich-

nis" nimmt, ist der Vertiefung des Kunstver-
ständnisses, der Belebung der Kunstbetrach-
tung sehr zustatten gekommen. Früher suchte
man Geistiges nur oder fast nur aus dem ge-
schriebenen Wort zu erschließen. Heute ist
alles oder faßt alles zum Zeichen, zum Symbol
geworden, deren Sprache wir zu verstehen
glauben, so daß das Geistige nun nicht mehr
mit einer, sondern mit vielen Zungen zu uns
spricht. Umgekehrt war die Kunst früher eine
Sache von bestimmt begabten Menschen, eine
Sache der Ateliers und des zünftigen Hand-
werks; heute ist sie Lebensdeutung und Geist-
verkündigung geworden, sie drückt das Allge-
meinste aus, das uns alle angeht, und deshalb
ist sie unser aller Sache geworden und hat eine
Würde gewonnen, die über ihr buchstäbliches
Leisten und Wirken weit hinaus reicht. Man
kann sagen, daß im Zusammenhang mit der
geistesgeschichtlichen Richtung des modernen
Denkens unser Weltbild sich sehr bereichert,
 
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