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Görling, Adolph; Woltmann, Alfred [Oth.]; Meyer, Bruno [Oth.]
Deutschlands Kunstschätze: eine Sammlung der hervorragendsten Bilder der Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener, Casseler und Braunschweiger Galerien : eine Reihe von Porträts der bedeutendsten Meister (Band 1) — Leipzig: Verlag von A. H. Payne, 1871

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https://doi.org/10.11588/diglit.62315#0409
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7 Tizian. 75

die ſchon erwähnt wurden. Auch Tizian's Bruder Francisco Vecellio war Maler. Tizian's
Wohnung in Venedig lag dem großen Treiben fern, im nördlichen Theile der Stadt, mit dem
Blick auf die Inſel Murano und die Gipfel der Alpen in der Ferne; hier war der Schauplatz
ſeines zu außerordentlicher Production geſteigerten Schaffens, zugleich der Schauplatz eines geſelli-
gen Verkehrs voll Anmuth, Geiſt und Formenſchönheit, wie er der Renaiſſance-Epoche eigen
war. Zwei literariſche und künſtleriſche Berühmtheiten gehörten zu Tizian's engerem Verkehr,
Pietro Aretino, der poetiſche Läſterer und literariſche Tyrann ſeiner Zeit, deſſen corrumpirter und
unreiner Charakter freilich zu dem edlen Weſen Tizian's in ſcharfem Gegenſatze ſtand, und der große
Florentiniſche Bildhauer und Baumeiſter Jacopo Tatti, genannt il Sanſovino, welcher ſich ſeit
1527 in Venedig niedergelaſſen und hier die herrlichſten Gebäude der Zeit, vor Allem die Biblio-
thek, errichtet hatte. „In Tizian's Hauſe zu Venedig“, ſagt Vaſari, „ſah man alle Fürſten, Gelehrte
und vorzügliche Perſonen, die zu ſeiner Zeit nach jener Stadt kamen und dort lebten“ Als Vaſari
ſelbſt im Jahre 1566 nach Venedig kam, beſuchte er Tizian als ſeinen lieben Freund. Er fand
den 8Ojährigen Meiſter, den Pinſel in der Hand, beim Malen, und ihm war die Unterhaltung
mit demſelben, wie das Anſchauen ſeiner Werke ein Genuß. Aus dem Jahre 1553 hat ein Theil-
nehmer an den Feſten im Hauſe Tizian's, Francesco Priscianeſe, eine briefliche Schilderung der-
ſelben hinterlaſſen. In dem ſchönen Garten mit der Ausſicht auf das Meer verſammlte ſich ein
erleſener Kreis, Pietro Aretino, Sanſovino und der Florentiniſche Geſchichtsſchreiber Jacopo Nardi.
Anmuthige Geſpräche würzten das Mahl, und Abends war die Waſſerfläche mit zahlloſen Gondeln be-
lebt, auf denen ſchöne Frauen einherglitten, und von welchen Geſang und Saitenſpiel herüberklang.
„Tizian“, ſagt Vaſari, „war ſtets geſund und ſo glücklich wie je ein anderer Meiſter ſeines
Berufs; der Himmel gab ihm nur Glück und Heil“ Es iſt etwas Majeſtätiſches in dieſem Leben
voll ruhiger Befriedigung des Daſeins, glänzender Production und unausgeſetzten Erfolgs. In dieſer
Hinſicht kann ſich höchſtens die Laufbahn von Rubens mit der ſeinigen vergleichen. Welcher Gegen-
ſatz zu dem ſturmvollen, an äußeren oder inneren Kämpfen reichen Leben eines Rembrandt und
Michelangelo. Tizian war eigentlich nicht eine früh entwickelte Natur. Ehe er dreißig Jahre
zählte, hörte man von keinem ſelbſtändigen Erfolg des Malers. Dann aber ſchwingt er ſich
auf eine Höhe, in der er bis in das höchſte Greiſenalter ſich zu halten vermag. Nur in der
letzten Zeit, als er gegen neunzig Jahre zählte, ſcheint das Alter auf die Production gewirkt zu
haben. Vaſari wünſcht, er möchte in den ſpäteren Jahren lieber nur zum Zeitvertreib gemalt
haben. „Titianus fecit fecit“ ſchrieb er auf die ganz ſpäte, nicht ſehr glückliche Verkündigung in
San Salvatore zu Venedig, um mit Nachdruck zu betonen, daß er ſie ſelbſt gemacht. Auch bei
den 1569 vollendeten miythologiſchen Fresken im großen Saale des Stadthauſes zu Brescia —
ſie ſind ſpäter durch Brand zu Grunde gegangen — wollte der Rath ſich nicht überzeugen, daß
ſie von der Hand des Meiſters ſelbſt ſeien. Mag aber auch in dieſer ſpäteſten Zeit die alte
Sicherheit der Hand etwas nachgelaſſen haben, ſeine Geiſteskraft blieb ungetrübt. Wenn man
ſchon die außerordentliche Lebenskraft ſeines Meiſters Bellini bewundern mußte, diejenige Tizian's
ging noch darüber hinaus. Er erreichte ein Alter von 99 Jahren, und da mußte eine allgemeine
ñ Seuche kommen, um dieſer unerſchütterlichen Exiſtenz ein Ziel zu ſetzen. Den 27. Auguſt 1576
raffte die Peſt ihn ſammt ſeinem Sohne Orazio hin. A. M.
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