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Nr. 35.

HEIDELBERGER

1871.

JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

Canti popolari delle Provincie me.ridionali, raccolti da Antonio
Casetti e Vittorio Imbriani. Volume primo. Roma,
Torino, Firenze. Ermanno Loescher. 1871.
In den Heidelb. Jahrb. 1870 S. 871 ff. habe ich den ersten
Band der von Domenico Comparetti und Alessandro D’Ancona heraus-
gegebenen Sammlung Canti e Rac conti delPopolo Italiano
besprochen, welchem jetzt nun die Fortsetzung gefolgt ist. Han-
delte es sich dort vom Norden Italiens, so sehen wir uns hier
nach dem Süden versetzt, das heisst also in einen viel heissem
Himmelsstrich, eine Luftveränderung, die sich auch in den Erzeug-
nissen der Volkspoesie beider Provinzen fühlbar macht. In den
Liedern Montferrat’s waltet, wie in denen von Piemont, Venetien
u. s. w. das epische Moment der Handlung, der Thätigkeit über-
wiegend vor, während in den mittäglichen Gegenden die Lyrik
fast ausschliesslich herrscht und sich in immer neuem Ausdruck
von Liebesgefühlen vernehmen lässt. Gleiches zeigt sich auch in
den übrigen bisher bekanntgemachten Sammlungen süditalienischer
Volkslieder und nur in der neuesten von Giuseppe Pitrö hat dieser
verdienstvolle Gelehrte sich angelegen sein lassen auch andere
Poesien Siciliens als erotische aufzusuchen, obwohl, wenn man von
den Legenden absieht, die Lieder erzählenden Inhalts auch hier
nur in sehr geringer Anzahl auftreten (s. G. G. A. 1871 S. 655 ff.).
Die Liebe und die sinnlich religiösen Empfindungen scheinen eben
in jenen Gegenden das Gemüth des Volkes mehr als alles andere
zu erfüllen und wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.
Daher die immer wiederkehrenden Variationen über das stehende
Thema »Ich liebe dich«, die uns dort entgegentreten, allerdings
mit einer Fruchtbarkeit' im Ausdruck der durch südliche Leiden-
schaft hervorgerufenen Gedanken und Impulse, mit einer so über-
strömenden Gluth, einem so wechselvollen Farbenreichthum der
Schilderung einer so tiefempfundenen, spontan emporquellenden
Wahrheit, dass man darüber die Monotonie des Gegenstandes fast
ganz übersieht und sich dem Zauber dieser südhesperischen Poesie
und der darin prangenden zauberischen Natur gern überlässt.
Alles dies nun tritt auch in der vorliegenden Sammlung uns im
reichsten Maasse entgegen, obwohl freilich der ungestörte Genuss
derselben nur denen vergönnt sein wird, die mit den süditalieni-
schen Dialekten nähere Bekanntschaft gemacht haben; bei der fast
gänzlichen Abwesenheit sprachlicher Erklärungen keine geringe An-
forderung, und zwar nicht bloss an »oltramontani«, sondern auch
LX1V. Jahrg. 7. Heft. 35
 
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