Manisch-depressive Erkrankungen und Kreativität 109
gab seinen Mitbürgern im nordgriechischen Abdera Anlass zur Sorge. Sie beauf-
tragten Hippokrates, Demokrit zu untersuchen, da sie die Befürchtung hegten,
dass er an Melancholie leide. Hippokrates nahm den Auftrag an; seine Exploration
von Demokrit endete jedoch in einem hochphilosophischen Disput. So musste er
den Abderiten mitteilen: „Machen Sie sich keine Sorgen, Demokrit ist kein Melan-
choliker. Er ist ein Genie." Ein Punkt, den 2400 Jahre später Cesare Lombroso
(1887) in missverständlicher Weise aufgriff - so missverständlich wie seine mon-
ströse Kreation des „delinquente nato", des „geborenen Verbrechers".
Durch Sokrates wissen wir, dass Kreativität, Inspiration und Schöpfung mit
Unruhe, Exaltation oder Gehobenheit verbunden sind. Wir wissen, dass „Musi-
zieren" und die Schöpfung von „Musik" - das heißt wortwörtlich „Hingabe an
die Musen" („Musik" im sokratischen und insgesamt im altgriechischen Sinn
bedeutete nicht nur, was wir heute darunter verstehen, sondern beinhaltete jede
Kunst und Kreativität, die von den Musen geschützt und gefördert wird) -, dass
die Schöpfung von Musik also das Produkt von Zuständen ist, die Sokrates mit
dem Wort „Dämon" oder „Dämonion" bezeichnete. Aber gerade diese „dämo-
nische" Exaltation, die Sokrates meinte, entspricht weitgehend den heutigen
Beschreibungen der „hyperthymen Persönlichkeit", der „hypomanischen
Zustände" und anderer maniformer Konstellationen.
Das „Dämonion" des Sokrates, die Kreativität, bedeutet aber leider nicht
immer Glück. „Kreativ sein" bedeutet gewiss nicht immer „glücklich sein", aber
teilweise und zeitweise doch. Kreativität kann Erfüllung, Genugtuung, Zufrie-
denheit, Hoffnung, manchmal auch hoher Genuss sein, so dass manche Krea-
tive den Höhepunkt schöpferischen Schaffens als Rausch empfinden.
Manche unipolare und bipolare Patienten sind außergewöhnlich kreativ.
Und: Manche Kreative sind manisch-depressiv; manche. Die wenigsten.
Untersuchungen zum Thema
Es gibt nur wenige systematische Untersuchungen zum Thema „manisch-
depressive Erkrankung und außergewöhnliche Kreativität". Die meisten stüt-
zen sich auf Analysen von Biographien oder Autobiographien von Wissen-
schaftlern, Künsüern, Autoren oder politischen Leitfiguren, so etwa die Studien
von Felix Post (1994). Systematische wissenschaftliche Untersuchungen zu
heute lebenden kreativen Menschen stellen die Ausnahme dar. Sehr wenige
Autoren verwenden standardisierte Instrumente und allgemeingültige
diagnostische Kriterien. Als repräsentativ können hier die Veröffentlichungen
von Andreasen und Mitarbeitern (1987,1974,1975,1988), Jamison (1989,1994),
Ludwig (1992,1994) und Richards und Mitarbeitern (1988) erwähnt werden.
Eine endgültige Antwort auf die alte Frage von Aristoteles wird wahrschein-
lich nie gegeben werden können. Es gibt viele Gründe, die dies erschweren;
nicht nur statistische, epidemiologische, Wahrscheinlichkeits- oder Zufällig-
keitsgründe, sondern auch andere, die mit der Beantwortung von Fragen zu tun
haben wie etwa: Was ist Kreativität? Ab wann sprechen wir von „gewöhnlicher"
und ab wann von „außergewöhnlicher Kreativität"? Wie operationalisiert und
gab seinen Mitbürgern im nordgriechischen Abdera Anlass zur Sorge. Sie beauf-
tragten Hippokrates, Demokrit zu untersuchen, da sie die Befürchtung hegten,
dass er an Melancholie leide. Hippokrates nahm den Auftrag an; seine Exploration
von Demokrit endete jedoch in einem hochphilosophischen Disput. So musste er
den Abderiten mitteilen: „Machen Sie sich keine Sorgen, Demokrit ist kein Melan-
choliker. Er ist ein Genie." Ein Punkt, den 2400 Jahre später Cesare Lombroso
(1887) in missverständlicher Weise aufgriff - so missverständlich wie seine mon-
ströse Kreation des „delinquente nato", des „geborenen Verbrechers".
Durch Sokrates wissen wir, dass Kreativität, Inspiration und Schöpfung mit
Unruhe, Exaltation oder Gehobenheit verbunden sind. Wir wissen, dass „Musi-
zieren" und die Schöpfung von „Musik" - das heißt wortwörtlich „Hingabe an
die Musen" („Musik" im sokratischen und insgesamt im altgriechischen Sinn
bedeutete nicht nur, was wir heute darunter verstehen, sondern beinhaltete jede
Kunst und Kreativität, die von den Musen geschützt und gefördert wird) -, dass
die Schöpfung von Musik also das Produkt von Zuständen ist, die Sokrates mit
dem Wort „Dämon" oder „Dämonion" bezeichnete. Aber gerade diese „dämo-
nische" Exaltation, die Sokrates meinte, entspricht weitgehend den heutigen
Beschreibungen der „hyperthymen Persönlichkeit", der „hypomanischen
Zustände" und anderer maniformer Konstellationen.
Das „Dämonion" des Sokrates, die Kreativität, bedeutet aber leider nicht
immer Glück. „Kreativ sein" bedeutet gewiss nicht immer „glücklich sein", aber
teilweise und zeitweise doch. Kreativität kann Erfüllung, Genugtuung, Zufrie-
denheit, Hoffnung, manchmal auch hoher Genuss sein, so dass manche Krea-
tive den Höhepunkt schöpferischen Schaffens als Rausch empfinden.
Manche unipolare und bipolare Patienten sind außergewöhnlich kreativ.
Und: Manche Kreative sind manisch-depressiv; manche. Die wenigsten.
Untersuchungen zum Thema
Es gibt nur wenige systematische Untersuchungen zum Thema „manisch-
depressive Erkrankung und außergewöhnliche Kreativität". Die meisten stüt-
zen sich auf Analysen von Biographien oder Autobiographien von Wissen-
schaftlern, Künsüern, Autoren oder politischen Leitfiguren, so etwa die Studien
von Felix Post (1994). Systematische wissenschaftliche Untersuchungen zu
heute lebenden kreativen Menschen stellen die Ausnahme dar. Sehr wenige
Autoren verwenden standardisierte Instrumente und allgemeingültige
diagnostische Kriterien. Als repräsentativ können hier die Veröffentlichungen
von Andreasen und Mitarbeitern (1987,1974,1975,1988), Jamison (1989,1994),
Ludwig (1992,1994) und Richards und Mitarbeitern (1988) erwähnt werden.
Eine endgültige Antwort auf die alte Frage von Aristoteles wird wahrschein-
lich nie gegeben werden können. Es gibt viele Gründe, die dies erschweren;
nicht nur statistische, epidemiologische, Wahrscheinlichkeits- oder Zufällig-
keitsgründe, sondern auch andere, die mit der Beantwortung von Fragen zu tun
haben wie etwa: Was ist Kreativität? Ab wann sprechen wir von „gewöhnlicher"
und ab wann von „außergewöhnlicher Kreativität"? Wie operationalisiert und