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Brodersen, Kai; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Wahn Welt Bild: die Sammlung Prinzhorn ; Beiträge zur Museumseröffnung — Berlin, Heidelberg [u.a.], 46.2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.4062#0262

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200 Dietrich von Engelhardt

Pathographie beschreibt im Blick auf die Krankheit individuelle Geschichte
und besitzt zugleich selbst Geschichte. Pathographie setzt einen Krankheits-
und Gesundheitsbegriff, ein Therapieverständnis und ein Ursachenkonzept
voraus wie ebenfalls eine Entscheidung über die Lebensbereiche und Aktivitä-
ten, die mit der Krankheit in eine Beziehung gebracht werden. Pathographie
steht schließlich stets vor der Gefahr, Seins- und Werturteile zu vermischen.
Eine Reihe zentraler Dimensionen und historischer Zäsuren lassen sich erken-
nen, die in diesem Beitrag knapp skizziert werden sollen - als Entwurf oder
Rahmen einer Theorie, Methodologie und Geschichte der Pathographie.1

II. Historie

Geprägt wird der Ausdruck „Pathographie", soweit sich das bislang sagen
lässt, um 1900 von dem Psychiater und Neurologen Paul Julius Möbius (1853-
1907)2, der verschiedene Abhandlungen über Rousseau, Goethe, Schopenhauer,
Schumann und Nietzsche verfaßt und berühmt-berüchtigt wird mit seiner
mehrfach aufgelegten Studie Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes
(1900). Dem Begriff geht aber, wie das wohl immer der Fall ist, die Sache vor-
aus: die Geschichte oder Beschreibung kranker Menschen, deren Überliefe-
rung in der Antike beginnt und auf körperliche wie psychische Krankheiten
Anwendung fand. Ähnliches trifft auf den Begriff „Autobiographie" zu, der
1809 von dem englischen Schriftsteller Robert Southey (1774-1843) eingeführt
wird und der seinerseits bekanndich eine lange Tradition zahlreicher autobio-
graphischer Texte zu seiner Voraussetzung hat. Nach William Stern (1871-1938)
stellt Pathographie die Art einer Biographie dar, „welche die körperliche Kon-
stitution, somatische und psychische Krankheiten, erbliche Belastung, Dege-
nerationszeichen, hysterische und epileptische Zustände, Alkoholneigung und
andere pathologische Merkmale in ihrer ursächlichen Bedeutung für Wesen
und Werk des Helden aufzudecken bestrebt ist."3

Vorbild der Krankheitsgeschichte sind die Kasuistiken aus den Epide-
mienbüchern des antiken Corpus Hippocraticum. Diese Krankheitsgeschich-
ten werden stets auf die Umwelt bezogen, vor allem auf klimatische Bedin-
gungen; die Kasuistiken geben aber auch individuelle Erscheinungsformen
der Krankheit wieder. Krankheit erscheint als ein Naturwesen, als ontologi-
sche Einheit, die man unabhängig vom erkrankten Menschen beschreiben
und in Arten klassifizieren kann. Viele Biographien, die Krankheit und
Tod beachten, liegen aus der Antike vor, z.B. die Sammlung der Lebens-
beschreibungen und Lehrmeinungen der Philosophen von Diogenes Laertios

1 Eine umfassende Darstellung der Pathographie steht noch aus, auf wesentliche Ansätze und Beiträge wird im Text hinge-
wiesen. Hervorgehoben seien an neueren Veröffentlichungen: Dieter Janz, Hg.: Krankengeschichte. Biographie - Geschichte
- Dokumentation (1999) sowie die beiden medizinische Dissertationen Wilhelm Preuss: Zur Biographik in Psychologie und
Medizin. Die Beiträge von Charlotte Bühler, Victor von Weizsäcker, Lucien Seve und Dieter Wyss (1984) und Susanne Hilken
Wege und Probleme der Psychiatrischen Pathographie (1993).

1 Paul Julius Möbius: Stachyologie, Leipzig 1901; ders. Ausgewählte Werke, Bd. 1-7, Leipzig 1911.
' William Stern: Ober Aufgabe und Anlage der Psychographie, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 3 (1909), S. 3Z4f.
 
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