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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.1
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Freud, Sigmund: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0029

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Die Inzestscheu der Wilden

21

Und nun müssen wir endlich jener Eigentümlichkeit des Die Exosramie.
totemistischen Systems gedenken, wegen welcher auch das Interesse
des Psychoanalytikers sich ihm zuwendet. Fast überall, wo der
Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder des^
selben Totem nicht in geschlechtliche Beziehun-
gen zu einander treten, also auch einander nicht
heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene
E x o g a m i e.
Dieses streng gehandhabte Verbot ist sehr merkwürdig. Es
wird durch nichts vorbereitet, was wir vom Begriff oder den
Eigenschaften des Totem bisher erfahren haben, man versteht also
nicht, wie es in das System des Totemismus hineingeraten ist. Wir
verwundern uns darum nicht, wenn manche Forscher geradezu
annehmen, die Exogamie habe ursprünglich — im Beginn der Zeiten
und dem Sinne nach — nichts mit dem Totemismus zu tun, son-
dern sei ihm irgend einmal, als sich Heiratsbeschränkungen not-
wendig erwiesen, ohne tieferen Zusammenhang angefügt worden.
Wie immer dem sein mag, die Vereinigung von Totemismus und
Exogamie besteht und erweist sich als eine sehr feste.
Machen wir uns die Bedeutung dieses Verbots durch weitere
Erörterungen klar.
a) Die Uebertretung diesesVerbotes wird nicht einer sozusagen
automatisch eintretenden Bestrafung der Schuldigen überlassen wie
bei den anderen Totemverboten <z. B. das Totemtier nicht zu töten),
sondern wird vom ganzen Stamme aufs energischeste geahndet, als
gelte es, eine die ganze Gemeinschaft bedrohende Gefahr oder eine
sie bedrückende Schuld abzuwehren. Einige Sätze aus dem Buch
von Frazer* mögen zeigen, wie ernst solche Verfehlungen von
legen, d. h. die Abstammung von dem oder jenem Tier zur Grundlage ihrer
sozialen Verpflichtungen und, wie wir hören werden, auch ihrer sexuellen Be»
Schränkungen zu machen? Es gibt darüber zahlreiche Theorien, deren Übersicht
der deutsche Leser in Wundt's Völkerpsychologie <Bd. II, Mythus und
Religion) finden kann, aber keine Einigung. Ich verspreche, das Problem des
Totemismus demnächst zum Gegenstand einer besonderen Studie zu machen, in
welcher dessen Lösung durch Anwendung psychoanalytischer Denkweise versucht
werden soll.
Aber nicht nur, daß die Theorie des Totemismus strittig ist, auch die Tat»
sadren desselben sind kaum in allgemeinen Sätzen auszusprechen, wie oben ver»
sucht wurde. Es gibt kaum eine Behauptung, zu welcher man nicht Ausnahmen
oder Widersprüche hinzufügen müßte. Man darf aber nicht vergessen, daß auch
die primitivsten und konservativsten Völker in gewissem Sinne alte Völker sind
und eine lange Zeit hinter sich haben, in welcher das Ursprüngliche bei ihnen viel
Entwicklung und Entstellung erfahren hat. So findet man den Totemismus heute
bei den Völkern, die ihn noch zeigen, in den mannigfaltigsten Stadien des Ver»
falls, der Abbröckelung, des Überganges zu anderen sozialen und religiösen
Institutionen, oder aber in stationären Ausgestaltungen, die sich weit genug von
seinem ursprünglichen Wesen entfernt haben mögen. Die Schwierigkeit liegt dann
darin, daß es nicht ganz leicht ist zu entscheiden, was an den aktuellen Verhält»
nisses als getreues Abbild der sinnvollen Vergangenheit, was als sekundäre Ent»
Stellung derselben gefaßt werden darf.
* F r a z e r, I. c. Bd. I., p. 54.
 
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